Unterunterabschnitt 3.4.3.4

3.4.3.4. Die „Wasserkalamität“ von 1890/’91 und ihre technische Lösung 1895

Bedingt einerseits durch das Wachstum der Stadt, andererseits durch die zunehmende Belastung des Okerwassers infolge der zunehmenden Einleitung industrieller und kommunaler Abwässer, verdeutlichte spätestens die „Wasserkalamität“ während des Winters 1890/’91 den inzwischen unerträglich gewordenen Zustand des (Trink-)Wassers in der Stadt Braunschweig. Zu ihr trugen zu allem Überfluss auch Maßnahmen bei, die ursprünglich zur Abwasserreinigung gedacht waren, im Ergebnis aber zu einer noch schlimmeren Belastung des Okerwassers führten: Im Januar 1891 hatte die nahe der Stadt Braunschweig gelegene Zuckerfabrik in Broitzem versucht, ihre Abwässer durch Zusatz von Eisensalzen chemisch zu klären. Dabei wurde dem Abwasser aber eine derart große Menge Eisensalz hinzugefügt, dass es letztlich zwar geklärt, dafür aber mit soviel rotbraunen Eisenverbindungen versetzt war, dass das städtische Leitungswasser zeitweilig selbst für häusliche Zwecke wie etwa dem Waschen von Kleidungsstücken nicht mehr zu gebrauchen war.[368] Die Einwohner der Stadt erwarteten dementsprechend eine Lösung des Problems von der Regierung, insbesondere vom Staatsministerium. Auch die Tageszeitungen nahmen sich in ihrer Berichterstattung des Problems an. Über die Ursachen – oder besser: die Verursacher – der Wasserverschmutzung herrschte weitgehend Einigkeit: es waren die Abwässer der Zuckerfabriken und der „abnorm kalte Winter dieses Jahres“[369], die hier zusammenwirkten. Zum Teil wurde auch der ungewöhnlich strenge Winter als Hauptursache gesehen, da

mangels der sonst eintretenden Selbstreinigung der Oker die Abwässer der Fabriken in ungenügend zersetztem und ungenügend gereinigtem Zustande bei uns angelangt sind“[370].

Das Problem ließ sich aber nicht allein auf die ausnahmsweise ausbleibende Selbstreinigungskraft der Oker zurückführen. Vielmehr fand die durch die Abwässer der Zuckerfabriken verursachte Verunreinigung der Oker zum Teil so nah oberhalb der Stadt statt,

dass eine Selbstreinigung des Wassers (durch Zutritt von Sauerstoff der Luft etc.) nicht oder nur noch in geringem Grade eintreten könne. Ausgeschlossen sei dieselbe, wenn die Oker, wie im gegenwärtigen Winter, eine geraume Zeit zugefroren sei.“[371]

Es entstand rasch Einigkeit darüber, dass einer künftigen Verunreinigung des Oker­wassers vorgebeugt werden musste. Dafür sollte nicht nur auf technische Mittel, sondern auch auf rechtliche Instrumente zurückgegriffen werden, welche ggf. erst noch entwickelt werden mussten:

Es ist Sache des Juristen, zu entscheiden, ob in dem vorliegenden Falle die Behörde immer eine gesetzliche Begründung für Zwangsmaßregeln gegen die einzelne Fabrik finden wird; ich bezweifle dies. Unzweifelhaft aber wird die Gesetzgebung da, wo solche Unterlagen fehlen, sie schaffen und in ihrem eigenen Interesse werden die beteiligten Fabriken für Beseitigung der Kalamität Sorge tragen müssen. Es ist wohl nicht zu viel behauptet, wenn ich sage, daß die Mehrzahl der Zuckerfabriken bereits genügend ihre Abwässer reinigen würde, wenn nicht einerseits bisher eine sehr milde Praxis bezüglich des von den Behörden auszuübenden Druckes beliebt wäre und andererseits vollkommene Klarheit nach allen Richtungen über das anzuwendende Reinigungsverfahren existierte.“[372]

Soweit das Fazit von Degener aus dem Februar 1891. Tatsächlich blieben die Juristen des Staatsministeriums nicht untätig: Angesichts der Erfahrungen im Winter 1890/’91 erlegte nach ihrer Anfrage auf Empfehlung von Blasius und Beckurts die Landespolizeibehörde den Betreibern der Zuckerfabriken unter Androhung der sofortigen Stilllegung ihrer Betriebe auf, die Abwässer aus den Fabriken nur noch nach vorangegangener Klärung auf Rieselfeldern in die Oker einzuleiten.[373] Eine „Wiederkehr derartig unleidlicher Zustände, wie sie in den Jahren 1890 und 1891 beobachtet wurden“, konnte dadurch abgewendet werden.[374] Auch sie konnte aber nicht verhindern, dass sich die „Abgänge der Zuckerfabriken währende der Campage der letzteren“ im städtischen Leitungswasser nach wie vor – wenn auch in geringerer Intensität – durch Geschmack bemerkbar machten.[375]

Anfangs reichte die kommunale Perspektive nicht weiter als bis zur Einmündung des Hauptabwasserkanals in den nächstgelegenen Fluss, so dass die Einleitung der städtischen Abwässer in die Vorfluter zur Lösung des regionalen Entsorgungsproblems neue, zunächst unerwartete überregionale Umweltprobleme schuf, was auch seinerzeit durchaus gesehen wurde:

Eine zweite Methode, sich des gesammten Canalwassers billig, weil ungereinigt, zu entledigen, besteht in seiner Einleitung in öffentliche Gewässer, wobei es dem Wechsel der Wassermenge gemäß mehr oder minder verdünnt und je nach der Stromgeschwindigkeit langsamer oder schneller aus der Stadt kostenlos entführt wird.

So einfach und bequem diese Methode auch ist, so hat sie doch ihre Bedenken, weil gesundheitsschädliche Stoffe nach anderen bewohnten Orten übertragen werden können, insofern eine Verdünnung des Canalwassers bis zur Unschädlichkeit nur bei wasserreichen schnellfließenden Gewässern gesichert erscheint.“[376]

In der Folge wurde das ursprüngliche Problem der lokalen Boden- und Grundwasserverunreinigung zu einem Problem der Flussverunreinigung und damit zu einem Problem der Unterlieger.[377] Hatte zunächst Braunschweig mit der Belastung seiner Gewässer durch Einleitungen der Oberlieger in den benachbarten preußischen Provinzen zu kämpfen, beschwerte sich 1893 der Präsident des preußischen Regierungsbezirks Lüneburg beim Staatsministerium über den unhaltbaren Zustand der Oker:

Wie mir berichtet wird, ist das Wasser der Oker im Monat Juli durch fremde, in den Fluß geleitete Stoffe in so hohem Grade verunreinigt worden, daß die Farbe des Wassers, die sonst hellgelb ist, fast schwarz war, der Fluß einen unerträglichen, den Aufenthalt in der Nähe unmöglich machenden Gestank verbreitete und der Fischbestand im Flusse davon vernichtet worden ist. Nach der Annahme ortskundiger Personen soll es keinem Zweifel unterliegen, daß die so unerträglichen Uebelstände durch Einleitung von Fäkalwasser aus der Stadt Braunschweig beziehungsweise den bei Braunschweig befindlichen Rieselfeldern hervorgerufen ist. Die Folgen, welche dieser Zustand des Okerwassers sowohl für die Gesundheit der Anwohner, als auch bei der vielfachen Verwendung desselben zur Wiesenbewässerung nach sich ziehen kann, liegen zu klar auf der Hand, als daß es eines näheren Eingehens darauf bedürfte.

Um allen solchen Gefahren bei Zeiten vorzubeugen, erlaube ich mir dem Herzoglichen Staatsministerium von den Beschwerden der diesseitigen Interessenten Kenntniß zu geben und um sehr geneigte Mittheilung darüber zu bitten, ob diese Verhältnisse etwa schon Gegenstand der Verhandlung dort geworden und Maßregeln zu[r] Beseitigung des fraglichen getroffen oder in Aussicht genommen sind.

Wenn es, wie mir ferner berichtet wird, von der Stadt Braunschweig beabsichtigt sein sollte, in unmittelbarer Nähe der Gifhorn’er Kreisgrenze beim Steinhof neue Rieselfelder anzulegen, so würde ich nicht umhin können, hiergegen im Interesse der Bewohner des Kreises Gifhorn Protest zu erheben.

Der Königlich Preußische Regierungs=Präsident

In Vertretung [ ..].“.[378]

Sein „im Interesse der Bewohner des Kreises Gifhorn“ erhobener Protest mag in Braunschweig zur Kenntnis genommen worden sein, verhindern konnte er die Inbetriebnahme des Rieselguts Steinhof 1895 indes nicht. Letztlich konnten die anschaulich in dem oben zitierten Schreiben dargestellten Probleme nur bewältigt werden, indem das städtische Abwasser zunächst auf dafür eigens angelegten Rieselfeldern verrieselt wurde, um derart vorbehandelt sodann in die Oker eingeleitet zu werden.

Nachdem bereits 1869 mit den Arbeiten zur Kanalisation durch unterirdische Tonröhren begonnen worden war, dauerte es noch rund 20 Jahre, bis der Plan des städtischen Ober­ingenieurs Mitgau für die unterirdische Entwässerung der Stadt ab 1890 umgesetzt wurde.[379] Er hatte 1889 vorgeschlagen, die Abwässer der Stadt der Herzoglichen Domäne Steinhof (ehemaliges Klostergut mit Vorwerk Hülperode) zuzuleiten und dort landwirtschaftlich zu nutzen.[380] Das Land für das 470 Hektar große Rieselgut wurde zwischen 1893 und 1896 erworben. 1894 erhielt die Stadt das Recht zum Betrieb einer Rieselanlage für 11.000 Kubikmeter Abwasser. Gebaut wurde eine 6,8 km lange gusseiserne Druckrohrleitung, die am 16. März 1895 erstmals in Betrieb genommen wurde.[381]


[368] Schreiben der Gutachter Blasius und Beckurts an das Staatsministerium vom 14. und 18. Januar 1891, in: NLA-StA WF, 12 Neu 5, Nr. 5815, Bl. 134 und 135. Aus heutiger Sicht fast schon etwas skurril mutet der letzte Absatz des ersten Schreibens (Bl. 134) an: „Was nun die Beseitigung der rothbraunen Flecke auf der Wäsche anbelangt, so kann diese durch Ausreiben der Flecke mit einer warmen Lösung von Kleesalz (1 Esslöffel auf 1 Tasse heissen Wassers) ausgeführt werden. Jedoch ist es unbedingt erforderlich, durch wiederholtes Auswaschen mit reinem Wasser das Kleesalz wieder vollständig zu entfernen, um dem Zerstören des Gewebes vorzubeugen.“.
[369] DEGENER, Möglichkeit der Reinigung der Zuckerfabrik-Abwässer, abgedruckt in: Beilage zur Braunschweigischen Landes-Zeitung, Nr. 79 (Morgen-Ausgabe) vom 17. Februar 1891, in: NLA-StA WF, 12 Neu 5, Nr. 5815, Blatt 154 a.
[370] DEGENER, a. a. O.
[371] Gewerberat SPAMMAN während der Beratung der Frage: „Wie eine Wiederholung der gegenwärtigen Verunreinigung des Okerwassers vorzubeugen sein werde“ am 28. Januar 1891, in: NLA-StA WF, 12 Neu 5, Nr. 5815, Blatt 34.
[372] DEGENER, Möglichkeit der Reinigung der Zuckerfabrik-Abwässer, abgedruckt in: Beilage zur Braunschweigischen Landes-Zeitung, Nr. 79 (Morgen-Ausgabe) vom 17. Februar 1891, in: NLA-StA WF, 12 Neu 5, Nr. 5815, Blatt 154.
[373] BLASIUS/BECKURTS, Verunreinigung, S. 19.
[374] BECKURTS/BLASIUS, Wasserversorgung der Gemeinden, S. 402.
[375] BECKURTS/BLASIUS, Wasserversorgung der Gemeinden, a. a. O.
[376] DÜNKELBERG, Technik, S. 10.
[377] Vgl. MARQUARDT, Umwelt, S. 393.
[378] Schreiben vom 14. August 1893, in: NLA-StA WF, 12 Neu 13, Nr. 5431, Bl. 61 f.
[379] MODERHACK, Braunschweiger Stadtgeschichte, S. 178.
[380] Zur Eigung des Bodens des Gutes Steinhof als Rieselfläche zur Abwasserreinigung s. das Gutachten von ORTH, in: OHLMÜLLER/ORTH, Errichtung, S. 22 ff.
[381] MODERHACK, a. a. O.; LEMKE-KOKKELINK, Stadtentwässerung, S. 61 ff. (S. 64) und S. 99 ff.