Unterunterabschnitt 3.4.3.3

3.4.3.3. Abwasserentsorgung in der Stadt Braunschweig

Nach dem Einsetzen der Urbanisierung als Begleiterscheinung der Industrialisierung belastete auch die Einleitung kommunaler Abwässer zunehmend die Vorfluter im Herzogtum, insbesondere die Oker und ihre Nebenflüsse. Auch angesichts der erheblichen industriellen Abwassereinleitungen (s. o.) begann die eigentliche Auseinandersetzung über die Flussverunreinigung um 1870 zunächst als Fortsetzung der Städtereinigungsfrage.[344] In Braunschweig erfolgte die Ableitung des Abwassers ursprünglich oberirdisch „kanalisiert“ in Gossen und Gräben zum Vorfluter.[345] Daneben waren noch sehr viele Abtrittsgruben vorhanden, welche durch kleine Landwirte ohne technische Hilfsmittel (etwa pneumatische Apparate) entleert, und deren Inhalt auf ca. 1.200 Morgen sandigen Bodens für den Spargelanbau benutzt wurde.[346] Waren die Abtritts- bzw. Sammelgruben nicht hinreichend abgedichtet, versickerte das darin gesammelte Abwasser im Boden und verschmutze das Grundwasser oder das aus verschiedenen Brunnen gewonnene Trinkwasser und konnte damit unter Umständen zur raschen Verbreitung von Krankheitskeimen führen. Die teilweise verheerenden Choleraepidemien in verschiedenen Städten werden u. a. auf derartige „Kurzschlüsse im Untergrund“[347] zurückgeführt:

Das System der Abtrittsgruben, die damit verbundene längere Aufbewahrung der Excremente und ihre periodische Entfernung durch Abfuhr allein ist daher sanitär gefährlich und um so verwerflicher, als sich diese nicht und niemals auf das Schmutzwasser der Städte erstrecken kann, und dieses doch ebenfalls in zerfallenden organischen Stoffen schädliche Gase und Lösungen innerhalb bewohnter Orte verbreitet, die Wasserläufe verpestet und den Keim zu Krankheit und Tod in weitere Kreise trägt, wie u. a. neuerdings die Verbreitung des Choleragiftes durch die Flüsse unzweifelhaft erwiesen hat.“[348]

Im Hinblick auf die Gesundheit der Stadtbevölkerung verlangte die Entwicklung somit sanitäre Vorsorge, vor allem, nachdem erst 1850 eine Choleraepidemie in Braunschweig über tausend Opfer gefordert hatte.[349]

Nach Inbetriebnahme der städtischen Wasserversorgung wurden ab 1865 zunehmend Toiletten mit Wasserspülung installiert. Um 1870 hatte Braunschweig etwa 75.000 Einwohner und bestand aus rund 4.700 Häusern.[350] Das Abwasser („Kanaljauche“[351]) aus den rund 2.500 seinerzeit in der Stadt vorhandenen „Wasser­closets“ wurde über unterirdische Kanäle u. a. in die „Ocker“ (sic!) eingeleitet.[352] Das führte zu einer derartigen Verschmutzung des ohnehin schon belasteten kleinen Flusses, dass der Einbau von Toiletten mit Wasserspülung bald nur noch auf Widerruf oder mit Bedingungen genehmigt wurde.[353] 1877 schließlich wurde die Polizeidirektion in Braunschweig von der hiesigen Kreisdirektion per Reskript vom 20. Juni[354] angewiesen, die Anlage von „water-closets“, deren Abwasser in die Straßenkanäle oder direkt in die Oker eingeleitet werden sollten, bis auf weiteres nicht mehr zu gestatten.[355] In seinem Bericht an das Staatsministerium wies der Stadtmagistrat auf die durch die Verfügung verursachten großen „Verlegenheiten“ hin, die Stadtverwaltung und viele Einwohner der Stadt trafen.[356] Die räumte der Kreisdirektor ein, hielt aber an seiner Verfügung fest, die er auf Grund von § 60 Abs. 2 Nr. 1 des Wassergesetzes von 1876 erlassen hatte:

Einer solchen mit der Gesetzgebung im Widerspruch stehenden Praxis glaubte die ganz gehorsamst unterzeichnete Behörde durch den Erlaß der gemachten Verfügung im öffentlichen Interesse, insbesondere auch im Interesse der unterhalb Braunschweig an der Oker liegenden Gemeinden Einhalt thun zu müssen, […].

Daß meine Verfügung dem […] Publikum in gewisser Weise unangenehm gewesen ist, will ich gern glauben, da die Art und Weise der Beseitigung der Fäcalstoffe vermittelst der Water-Closets eine sehr bequeme ist. Ob sie allgemein angewandt für die hiesige Stadt eine dauernd zweckmäßige ist, ist eine andere Frage […]“[357]

Kurzum: Obwohl sie es nicht war, hielt die Kreisdirektion auf Dauer an ihrem Verbot nicht fest.

In der Folgezeit allerdings gestattete sie den Einbau von Toiletten mit Wasserspülung zunächst nur noch unter zum Teil erheblichen Auflagen.[358]

Im Februar 1877 erläuterte Louis[359] Mitgau seinen Plan zur Kanalisierung, deren Erfordernis für ihn unmittelbar aus der Errichtung des Wasserleitungsnetzes folgte:[360]

Es liegt ja auch in der Natur der Sache, dass [sic!] es so und nicht anders sein kann; denn vergegenwärtigen wir uns einmal die Entwicklung unserer Stadt: Wenn jetzt ein Grundbesitzer an einer nicht canalisirten Strasse ein Haus baut, so lässt er zuerst die Wasserleitung ausführen, weil er Wasser zum Baue nöthig hat. Nachdem sein Haus fertig und bewohnt und selbstverständlich mit Wasserleitung versehen ist, werden die flüssigen Abgänge ohne Weiteres auf einen im Garten befindlichen Platz gegossen, damit sie in die Erde ziehen. Das Versickern hört nach einiger Zeit auf, und es wird eine Grube hergestellt, auch diese füllt sich, ohne dass die Abgänge verschwinden. Eine zweite Grube hat denselben Erfolg, und so geht es fort, bis der für diesen Zweck disponible Boden gesättigt ist.

Jetzt bleibt den Bewohnern nichts weiter übrig, als die Abgänge auf die Strasse zu giessen, und hier entstehen dann die bekannten Zustände, welche schon in spaltenlangen Berichten des Tageblatts beschrieben sind und von welchen die Herren sich selbst überzeugen können, wenn Sie der Aufforderung des genannten Blattes folgen und die Zimmer-, Friedrichs- und Kreuzstrasse besuchen wollen.

Wie sehr die Entwässerung einer Strasse mit der Wasserversorgung im Zusammenhang steht, zeigt z. B. gegenwärtig die erwähnte Kreuzstrasse, welche erst jetzt die Ausführung der Canalisation fordert, nachdem sie vor einem halben Jahre mit Wasserleitung versehen ist; vorher war kein Bedürfniss zu canalisiren oder dasselbe noch weniger dringend.“[361]

Zur Entsorgung des in der Stadt anfallenden Abwassers stand als aufnahmefähiger Vorfluter in Braunschweig die Oker zur Verfügung. Sie umfasste mit dem westlichen und dem östlichen Umflutgraben die Innenstadt.[362] Mit ansteigender Bevölkerungszahl und zunehmender Einleitung industrieller Abwässer überforderte das entsprechend erhöhte Abwasseraufkommen schließlich ihre Selbstreinigungskraft,[363] so dass in den 1880er Jahren ein unerträglicher Zustand eintrat.[364]

Im Juli 1884 schilderte Rudolf Blasius[365] die Verhältnisse in der Stadt Braunschweig, die ihn das erneute Auftreten der Cholera befürchten ließen:

Wir wohnen hier auf einem, seit langen Jahren schwer verunreinigten Boden, in Folge dessen viele unserer Brunnenwässer untauglich zum Genusse sind. Uns fehlt eine methodische Canalisation, die den Untergrund drainirt und vor weitere Verunreinigung schützt, uns fehlt ein den Anforderungen der Gesundheitspflege entsprechendes Abfuhrsystem – wir haben das denkbar schlechteste, zum größten Theile sind in der Stadt Senkgruben, welche gewiß in vielen Fällen nicht dicht sind und den umliegenden Boden verunreinigen, – es fehlt uns zur Zeit ein gutes, gesundes Trink- und Leitungswasser, […]“[366]

In den 1890er Jahren begann zudem die Stadt Wolfenbüttel eine Kanalisation zu planen. Die gesammelten Abwässer sollten ebenfalls der Oker zugeführt werden, was die Situation des Unterliegers Braunschweig weiter verschärft hätte.[367]

Letztlich musste daher eine dauerhafte Lösung der Abwasserfrage gefunden werden, wozu allerdings weniger das Wasserrecht, als vielmehr die Abwassertechnik beitrug.


[344] ROMMELSPACHER, Recht, S. 44; KLOEPFER, Geschichte, S. 58.
[345] AHLERS/EGGERT, Abwasserverband, S. 10.
[346] GERSON, Verunreinigung, S. 26.
[347] MÜNCH, Stadthygiene, S. 339.
[348] DÜNKELBERG, Technik, S. 4.
[349] MODERHACK, Braunschweiger Stadtgeschichte, S. 178.
[350] GERSON, Verunreinigung, S. 26.
[351] OHLMÜLLER/ORTH, Errichtung, S. 2.
[352] GERSON, a. a. O.; OHLMÜLLER/ORTH, Errichtung, S. 2.
[353] AHLERS/EGGERT, Abwasserverband, S. 10; Einzelne Vorgänge sind dokumentiert in NLA-StA WF, 12 Neu 13, Nr. 5413.
[354] Nr. 3610.
[355] NLA-StA WF, 12 Neu 13, Nr. 5413, Bl. 288.
[356] NLA-StA WF, 12 Neu 13, Nr. 5413, Bl. 288.
[357] NLA-StA WF, 12 Neu 13, Nr. 5413, Bl. 284 (Unterstreichungen im Original).
[358] Siehe dazu den in NLA-StA WF, 12 Neu 13, Nr. 5413, Bl. 268 ff. dokumentierten Vorgang: Selbst der kaiserliche Oberpostdirektor und geheime Postrat Schottelius konnte sich nur unter erheblichen Mühen gegenüber der Kreisdirektion durchsetzen und durfte letztlich – allerdings nur unter erheblichen Auflagen – im neuen Reichspostgebäude Toiletten mit Wasserspülung einbauen lassen.
[359] Eigentlich: August Wilhelm Carl Ludwig Mitgau.
[360] „Wo Wasserleitung, da ist auch Canalisation erforderlich“, MITGAU, Canalisation, S. 4.
[361] MITGAU, Canalisation, S. 5.
[362] Zum Verlauf der Gräben in der Stadt s. KNAPP, Verunreinigung, S. 1.
[363] Ausführlich dazu KNAPP, Verunreinigung, S. 2 ff.
[364] AHLERS/EGGERS, a. a. O.
[365] Blasius, Heinrich Paul Rudolf, Prof. Dr., * 25. November 1842 Braunschweig, U 21. September 1907 ebenda, Mediziner, Prof. der Hygiene, Ornithologe. 1874 Niederlassung als praktischer Arzt in Braunschweig, wo später Wasserleitung und Kanalisation sowie die Einrichtungen der Gesundheitspflege unter seiner tatkräftigen Mitwirkung entstanden, s. dazu OEHME, Blasius, Heinrich Paul Rudolf, in: BBL, S. 66.
[366] BLASIUS, Cholera, S. 6.
[367] NLA-StA WF, 12 Neu 5, Nr. 5815, Blatt 42 d. A.