3.4.3.1.       Bevölkerungszunahme im 19. Jahrhundert

Mauernstraße, Klint und Werder,
davor hüte sich ein jeder.
Nickelnkulk ist auch nicht besser,
denn da wohnen Menschenfresser.“[288]

Mauernstraße, Klint und Werder,
ja dort wohnen Deutschverderber.
Nickelnkulk ist auch nicht besser,
denn dort wohnen Menschenfresser.“[289]

War Braunschweig um 1800 noch ein verschlafenes Residenzstädtchen mit 27.000 Einwohnern, so lebten 1875 bereits 75.000 Menschen in der Stadt und nur 25 Jahre später hatte die Stadt mehr als 128.000 Einwohner.[290] Der Grund für die Bevölkerungsexplosion war die Industrialisierung: Indem sie Arbeitsplätze anbot, zog sie die Menschen in die Stadt.[291] Für ihre schnell wachsenden Betriebe benötigte die Industrie eine große Anzahl von Arbeitern, die in nicht allzu großer Entfernung von ihrer Arbeitsstätte wohnen mussten.[292] Dementsprechend suchten junge Leute, vor allem aus den umliegenden Dörfern, Arbeit in den zahlreichen neu entstandenen Fabriken oder als Dienstmädchen in einem bürgerlichen Haushalt. Diese „Arbeitsmigranten“ fanden zunächst Unterkunft als Untermieter oder Schlafgänger in den engen Armenvierteln der Innenstadt. Bald jedoch mussten neue Wohngebiete außerhalb der Stadt erschlossen werden mit neuem Wohnraum, qualitativ besser als in den städtischen Armutsgebieten (wo etwa ein Drittel der Wohnungen nicht mit Wasser versorgt war), und dieser Wohnraum musste für Industriearbeiter erschwinglich sein.

Vor allem aber musste die Bevölkerung mit Trinkwasser versorgt werden, das in praktisch gleicher Menge – mehr oder weniger verschmutzt – wieder als Abwasser anfiel, folglich nicht „ver-“, sondern „gebraucht“ wurde und letztlich auch wieder entsorgt werden musste.[293] Somit war die Versorgung der Einwohner mit sauberem Trinkwasser ebenso zu gewährleisten, wie die ordnungsgemäße Entsorgung der industriellen und häuslichen Abwässer, sollten Cholera- und andere Epidemien dort künftig vermieden werden. Dabei bedingten sich zentrale Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung gegenseitig:[294] Je mehr Wasser durch die zentrale Trinkwasserversorgung in die Stadt gebracht wurde, umso mehr musste später als Abwasser wieder entsorgt werden. Auch machte die zentrale Trinkwasserversorgung etwa die Einführung des Wasserklosetts in größerem Umfang erst möglich. Durch das ständig steigende Abwasseraufkommen aber wurden die herkömmlichen Möglichkeiten der Fäkalienabfuhr zunehmend überfordert, so dass sich bald die Frage nach einer Kanalisation der Stadt stellte.


[288] Überlieferter Spottvers des Volksmundes über verkehrsarme Straßen im Norden und Süden der Stadt, die als ausgesprochene Unterschichtstraßen bekannt waren, s. SCHILDT, Wohnraumverknappung, S. 158.
[289] Variante des „Braunschweiger Spruches“ (Fn. 288), der die feineren Leute davor warnte, die im Spruch genannten Gegenden aufzusuchen, abgedruckt bei HEITEFUSS, Braunschweig, S. 64.
[290]AHLERS/EGGERT, Abwasserverband, S. 12.
[291] PINGEL, Stadterweiterung, S. 16.
[292] HENNING, Industrialisierung, S. 270.
[293] Vgl. AHLERS/EGGERT, Abwasserverband, S. 9.
[294] Vgl. dazu BÜSCHENFELD, Flüsse, S. 34.