Unterabschnitt 3.4.3

3.4.3. Entwicklung in der Stadt Braunschweig bis zur Inbetriebnahme des Rieselguts Steinhof

Also sprechen die Schriften der weisen Meister:

Wasser ist die Wonne alles Lebenden;
den Siechen ein Arzt,
den Gesunden ein guter Freund,
der Ruhe ein Gespiele
der Arbeit ein Genosse.

Darum, ihr Bürger, so lasset des Wassers Ströme fließen in jedwedes Bürgers Haus“[277]

In Folge von Industrialisierungsschüben kam es während des 19. Jahrhunderts zu einem sprunghaften Wachstum einzelner Städte.[278] Als eine der Folgen der Industrialisierung zählt damit auch eine bis dahin unbekannte Bevölkerungsvermehrung zu den im 19. Jahrhundert zu beobachtenden radikalen, geradezu sprunghaften Veränderungen der sozialen Wirklichkeit, die zugleich der Verwaltung ganz neue Aufgaben stellten.[279] Im Herzogtum Braunschweig galt das vor allem für die gleichnamige Residenzstadt.

Im nördlichen Teil des gelegen, ließ sie als Handels- und Messestadt die übrigen Städte des Herzogtums an wirtschaftlichem Gewicht weit hinter sich. Mit Beginn der Industrialisierung, insbesondere aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, siedelte sich hier eine Reihe von Unternehmen an, in deren Fabriken eine beträchtliche Zahl von Menschen Arbeit fand, was zu einem sprunghaften Wachstum der Stadt führte. Die Urbanisierung[280] brachte eine Reihe von Problemen mit sich: häufig kam es zu einer Verknappung des Wohnraums.[281] Zeitgleich führte das Wachstum der Städte und der Ausbau der Industrie im Herzogtum zu Problemen bei der Wasserversorgung und der Abwasserentsorgung,[282] so brachen die auf den Typus der agrarkulturellen Stadt mit ihren 5.000-10.000 Einwohnern zugeschnittenen dezentralen Brunnen-, Abwasser- und Abortsysteme zum Teil völlig zusammen.[283] Die sich vervielfachende Fäkalien- und Abfallbelastungen führten zu verheerenden Vergiftungen und Seuchen. Teilweise traten bis dato völlig neuartige Krankheiten auf: Die Cholera etwa, eine über kontaminiertes Trinkwasser übertragene bakterielle Infektionskrankheit, war in Mitteleuropa unbekannt gewesen, bevor sie während einer Epidemie 1850 im Herzogtum Braunschweig 10.475 und in der Stadt Braunschweig 1024 Menschen das Leben kostete.[284] Das stellte Land wie Stadt vor völlig neue Herausforderungen. Dabei ging es nicht nur um die Entsorgung von Schmutzwasser: zum Teil konnte die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser nicht mehr in ausreichendem Maße gewährleistet werden. In Braunschweig begann bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das bisherige Wasserversorgungssystem der Stadt funktionsuntüchtig zu werden. Daneben war die Oker als Trinkwasserlieferant zunehmend der Verschmutzung durch industrielle Abwässer ausgesetzt, was sich besonders im Herbst 1857 unangenehm bemerkbar machte.[285] Die technischen Entwicklungen führten daneben zu jener Zeit u. a. zu einem drastischen Anstieg der Immissionen.[286] So stieg die Anzahl gewerblicher Emittenten, die für die wachsende Bevölkerung Konsumgüter bereitstellten. Gleichzeitig rückten Gewerbe- und Wohngebiete immer näher zusammen: die Wohnbebauung der durch das Bevölkerungswachstum expandierten Städte grenzte daher bald an Fabriken, die sich einst wegen der Immissionen vor den Toren der Stadt angesiedelt hatten. Auch veränderten sich die Immissionen selbst: sie enthielten zunehmend mehr schädliche Bestandteile.[287] Es entstanden in ihrer Zusammensetzung und Wirkung neue Abfallstoffe durch veränderte und neue Produktionswege – gleichwohl wurden solche Stoffe u. a. durch Einleitung in Oberflächengewässer entsorgt, was zu einer zunehmenden, mit der Zeit auch deutlich wahrnehmbaren Belastung der Flüsse führte. Das Wachstum der Stadt mit allen beschriebenen Begleiterscheinungen führte schon recht bald zu Problemen bei der Trink- und Brauchwasserversorgung der Haushalte in der Stadt, ebenso wie zu Problemen bei der Entsorgung des kommunalen Abwassers.


[277] Im Maschinenhaus des Wasserwerks der Stadt Braunschweig angebrachter Spruch, zit. nach Braunschweigische Anzeigen 1892, Nr. 50 (v. Sonnabend, d. 20 Februar 1892), S. 496.
[278] Hatte Berlin 1861 etwa 524.000 Einwohner, waren es 1910 bereits 932.000 Einwohner, s. MARQUARDT, Umwelt, S. 392. Die Stadt Essen wuchs von 40.000 Einwohnern (1800) auf 443.000 Einwohner (1910), München von 40.000 auf 110.000 (1870) und 596.000 (1910), Frankfurt a. M. von 49.000 (1800) auf 415.000 Einwohner (1910), s. KLOEPFER, Geschichte, S. 31 m. w. N. Die Stadt Braunschweig wuchs von 27.000 auf 75.000 (1875) und 128.000 (1900) Einwohner, s. AHLERS/EG­GERT, Abwasserverband, S. 12.
[279] Vgl. STOLLEIS, Geschichte. Zweiter Band, S. 238.
[280] Im Gegensatz zum Begriff „Städtewachstum“, der die Größenveränderung einer konkreten Stadt beschreibt, bezeichnet „Urbanisierung“ einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, der zunächst einmal eine Proportionsverschiebung zwischen Stadt und Land hervorgerufen hat, s. KRABBE, Entfaltung, S. 373.
[281] Dazu SCHILDT, Wohnraumverknappung, S. 148 ff.
[282] Vgl. KLOEPFER, Geschichte, S. 46 f.
[283] Dazu und zum Folgenden: MARQUARDT, Umwelt, S. 392.
[284] LEMKE-KOKKELINK, 100 Jahre Stadtentwässerung, S. 36; MODERHACK, Braunschweigische Stadtgeschichte, S. 178; GEBERT, Entwicklung, S. 110.
[285] PINGEL, Stadterweiterung, S. 67 und dort Fn. 6.
[286] Dazu und zum Folgenden: LIES-BENACHIB, Immissionsschutz, S. 21.
[287] So war etwa ein Anstieg des Schwefelgehalts im Rauch der Fabrikschlote festzustellen, weil man nun energiereiche Steinkohle zum Betrieb der Dampfmaschinen einsetzte.