Unterabschnitt 3.4.2

3.4.2. Belastung der Gewässer in Folge industrieller Nutzung

Stand in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch regelmäßig die Frage nach der Quantität des Wassers im Mittelpunkt des Interesses, namentlich die Frage, ob das jeweils vorhandene Wasser resp. dessen Triebkraft für alle daran Interessierten ausreichte, kam im Verlauf des Industrialisierungsprozesses die Frage nach der Qualität des Wassers hinzu. Viele Fabriken waren auf Wasser angewiesen, das nicht nur in der benötigten Menge vorhanden sein musste, sondern vor allem auch nicht zu stark mit organischen und anorganischen Abfallstoffen belastet sein durfte, sollte es als Produktionsmittel im Fabrikprozess eingesetzt oder auch als Trinkwasser für die Fabrikarbeiter und deren Familien verwendet werden können.

Gleichwohl nutzten die Unternehmen die Gewässer zur schnellen und kostengünstigen Entsorgung ihrer Fabrikabwässer. Bereits die Beschreibung der Flüsse des Herzogtums bei Lambrecht[256] spricht für sich, wenn er schreibt, die Leine…

…wälzt ihr schmutzig-gelbes Wasser mit ziemlicher Schnelligkeit vom Süden nach Norden durch das Herzogtum…“.[257]

Nicht besser bestellt war es um Harzflüsse wie Innerste, Bode oder um andere Gewässer wie Ilse und Oker, deren Wasser durch die Abfallstoffe und Abwässer aus Hütten- und Kaliwerken sowie Zuckerfabriken sehr stark verunreinigt wurde. Das Okerwasser etwa wurde allerdings nicht erst in Braunschweig verschmutzt, sondern bereits in den benachbarten preußischen Provinzen durch Einleitung von Abwasser belastet, worauf es in dem Zustand die braunschweigischen Hoheitsgrenzen überfließen konnte.[258]

Später beschrieb der Schriftsteller Wilhelm Raabe in seiner Erzählung Pfisters Mühle sehr anschaulich den Zustand der Gewässer im Herzogtum Braunschweig:

Da rauschte milchigtrübe, schleimige Fäden absetzend, übelduftend der kleine Fluß unbeschäftigt weiter […].“[259]

Obgleich es sich hierbei um eine Erzählung handelt, basieren die Schilderungen des Schriftstellers auf Tatsachen, die er als Zeitzeuge selbst wahrgenommen hatte. Der Rechtsstreit, an den Raabe seine Erzählung anlehnte, war vor dem Landgericht sowie dem Oberlandesgericht in Braunschweig und schließlich vor dem Reichsgericht verhandelt worden.[260] Ursächlich für die im Sachverhalt der Entscheidung[261] beschriebenen Gewässerverschmutzungen waren in Braunschweig vor allem die Abwässer der zahlreichen Zuckerfabriken, mit ihrem hohen Anteil organischer Abfallstoffe.

Das für die Herstellung von Zucker aus Rüben benötigte Wasser wurde zumeist aus den im Harz entspringenden kleinen Flüssen wie Oker, Fuse und Innerste sowie deren Zuläufen entnommen.[262] Anschließend wurde ein Teil des entnommenen Wassers nach Durchlaufen des Produktionsprozesses als Abwasser wieder in die Wasserläufe eingeleitet. Beim Betrachten der Belastungen der Wasserzüge des Herzogtums sind daher die Entnahme von Wasser als Trink- oder wenigstens Brauchwasser sowie die Einleitung von Abwasser zu berücksichtigen. Beide Nutzungsarten hatten erhebliche Auswirkungen auf den Zustand des Wassers und letztlich dessen Geeignetheit etwa für den Fabrikbetrieb oder auch als Trinkwasser.

Der Wasserhaushalt wurde bereits durch die Entnahme von Wasser aus den Oberflächengewässern belastet, da der Verdünnungsgrad ein erheblicher Faktor für die Selbstreinigung der Gewässer ist.[263] Stieg etwa der Anteil der in einen Wasserzug eingeleiteten Abwässer im Verhältnis zum übrigen vom Gewässer geführten Wasser zu sehr an, konnte das die Selbstreinigungskraft des Wassers letztlich überfordern, so dass sie nicht mehr stattfinden konnte. Das war offensichtlich bereits im 19. Jahrhundert bekannt, wie der zitierte Beitrag von Degener belegt.

Im Hinblick auf die Selbstreinigungskraft eines Wasserzuges waren vor allem die organischen Abfallstoffe von Bedeutung: Für die Verarbeitung von nur 200 t Rüben verbrauchte eine Zuckerfabrik so viel Wasser wie 20.000 Einwohner und entließ soviel organische Substanzen wie 50.000 Einwohner einer Stadt.[264] Anorganische Stoffe wie etwa Salze, konnten ohnehin nicht im Wege der Selbstreinigung abgebaut und damit wieder aus dem Wasser entfernt werden.

Das Wasser wurde aber letztlich durch die Entnahme nicht verbraucht, sondern nur gebraucht, d. h. nach seinem Einsatz als Produktionsmittel in den verschiedenen Abschnitten der Zuckerherstellung musste es als Abwasser wieder entsorgt werden, soweit es nicht durch Verdampfung und Kondensation im Produktionszyklus verblieb. Damit wurden die Gewässer zunehmend auch durch die Einleitung industrieller Abwässer belastet. Die wurden zum Teil durch direkte Einleitung in die Vorfluter entsorgt. Andernorts wurden die Abwässer zuvor noch gereinigt, womit aber keine Abwasserreinigung im heutigen Sinne gemeint ist. Vielmehr wurden Fabrikabwässer vor der Einleitung in die Flüsse allenfalls durch ein „wirklich primitives Wasserreinigungsverfahren“ geklärt, das Mügge für die Zuckerfabrik in Hedwigsburg wie folgt beschreibt:

Man hatte auf der Westseite des Fabrikgrundstücks eine Reihe gemauerter kleiner Absatzgruben angelegt, in denen die gesamten Abwässer der Fabrik aus allen ihren Teilen, dem Rübenhause, dem Pressensaale, dem Knochenkohlen- und dem Zuckerhause einer höchst urwüchsigen, mechanischen Abklärung unterworfen wurden. Was in den Gruben gerade zurückblieb wurde ausgekarrt und an den Rübenerdehaufen gefahren, und was nicht zurückblieb, und nicht ausgekarrt wurde oder vielleicht auch nicht ausgekarrt werden konnte, nahm munter und anstandslos den Weg in die dicht bei den Gruben vorbeifließende Oker.“ [265]

Seinerzeit wurde das hinsichtlich der Verschmutzung der Oker wohl als nicht allzu problematisch angesehen, denn ergänzend wies er darauf hin, dass

die Menge der damaligen Abwässer mit höchstens einem Minutenkubikmeter und die dadurch verursachte Verunreinigung unserer Oker mit ihrer mehrhundertfachen Wasserführung von ganz untergeordneter Bedeutung war.“[266]

Hätte tatsächlich nur (s)eine Zuckerfabrik ihre Abwässer in die Oker eingeleitet, wäre das womöglich tatsächlich von nur untergeordneter Bedeutung gewesen. Hat sie aber nicht – im Gegenteil: Um 1870 herum nahm in den benachbarten preußischen Provinzen eine Reihe neuer Zuckerfabriken den Betrieb auf, die als Oberlieger an den Flussläufen der Ilse, Radau und Oker ihre Abwässer ebenfalls so gut wie ungereinigt in die Gewässer entsorgten.[267] Ende der 1880er Jahre schließlich leiteten insgesamt 12 Zuckerfabriken – davon sieben im Herzogtum Braunschweig (Broitzem, Dettum, Hedwigsburg, Schöppenstedt, Altenau, Thiede und Wendessen) und fünf in Preußen (Hornburg, Osterwieck, Wasserleben, Vienenburg und Schladen) –, die während der Kampagne ca. 73.000 Ztr. Rüben täglich verarbeiten, ihre Abwässer in die Oker ein.[268] Nur bei wenigen dieser Fabriken waren genügende Einrichtungen zur Klärung und Reinigung dieser Abwässer vorhanden.[269]

Nach Einführung des Diffusionsverfahrens verschärfte sich die Abwasserproblematik zusehends, da mit seinem Einsatz in den Zuckerfabriken zugleich deren Bedarf an Wasser stieg,[270] wodurch zugleich die Menge des zu entsorgenden Abwassers anstieg. Gerson beschreibt Zuckerfabriken, aus denen das 10-15fache Gewicht der täglichen Rübenverarbeitung als Abwasser entsorgt werden musste, wobei es Möglichkeiten gab, einen Teil des Wassers im Produktionskreislauf zu belassen, so dass letztlich im Durchschnitt „nur“ das fünffache Gewicht der täglich verarbeiteten Rüben als Abwasser anfiel.[271] Bei rund 5.000 Zentnern[272] Rüben pro Tag fielen aber immer noch rund 25.000 Zentner, also etwa 1.250 m3 Abwasser täglich an.

Einleitend wurde auf die Ambivalenz der Problematik hingewiesen: einerseits verschmutzten zahlreiche Industriebetriebe das Wasser durch Einleitung ihrer Abwässer. Andererseits waren sie selbst auf sauberes Wasser als Produktionsmittel oder auch als Lebensmittel angewiesen. Das galt insbesondere für die Zuckerfabriken, die erheblich unter den Folgen der Einleitungen nicht nur der Kali-Industrie, sondern auch anderer Zuckerfabriken zu leiden hatten. Mügge etwa schildert ausführlich die Belastung der Flüsse durch die Abwässer der in Preußen gelegenen Zuckerfabriken.[273] Waren die Fabriken gezwungen, verunreinigtes Wasser für die Zuckergewinnung zu verwenden, wurden sie mit vielerlei Schwierigkeiten konfrontiert, etwa bei der Scheidung des Saftes, in der Reinigung der wieder zu verwendenden Knochenkohle und beim Auskristallisieren des Zuckers, der schließlich noch eine unreine Farbe erhält.[274] Abgesehen von der verminderten Eignung des Wassers für den Fabrikbetrieb waren die Fabriken auch auf sauberes Wasser für ihre Arbeiter angewiesen: Allein in Hedwigsburg waren es 22 Haushalte und mehr als 100 Arbeiter, die – wie auch immer – mit dem verschmutzten Wasser leben mussten.[275]

Daneben verursachte der erhöhte Salzgehalt des Wassers aufgrund der Einleitungen der Kali-Industrie verschiedene Probleme:[276] Mit jeder Versalzung eines Flusslaufs wurde der innere Betriebsablauf jeder Zuckerfabrik unter anderem durch die Beschädigung von Dampfkesseln und anderen Apparaten stark beeinträchtigt, da das im Wasser gelöste Salz zu einer schnelleren Korrosion von Anlagenteilen, etwa der Kesselanlagen führte. Auch hatte der Salzgehalt des Wassers Auswirkungen auf die Zuckerqualität sowie die Qualität der übrigen Erzeugnisse der Zuckerfabriken.


[256] LAMBRECHT, Geschichte, S. 111 ff.
[257] Ders., a. a. O., S. 113.
[258] MÜGGE, Entwicklung, S. 167.
[259] RAABE, Pfisters Mühle, S. 92.
[260] Das Urteil des 3. Zivilsenats vom 20. Mai 1884 – Rep. III.53 84 – ist abgedruckt in RGZ 1884, S. 183-188.
[261] RGZ 1884, S. 183 (184).
[262] JÜRGENSEN, a. a. O.
[263] Dazu später ausführlich DEGENER, Möglichkeit der Reinigung der Zuckerfabrik-Abwässer, abgedruckt in: Beilage zur Braunschweigischen Landes-Zeitung, Nr. 79 (Morgen-Ausgabe) vom 17. Februar 1891, in: NLA-StA WF, 12 Neu 5, Nr. 5815, Blatt 154 a.
[264] Beispiel bei BENÖHR, Umweltrechtsentwicklungen, S. 46.
[265] MÜGGE, Entwicklung, S. 138; Zeichnungen bzw. Pläne der beschriebenen Anlagen sind erhalten in NLA StA-WF, 127 Neu, Nr. 3349.
[266] MÜGGE, a. a. O.
[267] MÜGGE, a. a. O.
[268] BLASIUS/BECKURTS, Verunreinigung, S. 8.
[269] Gewerberat Spamman während der Beratung der Frage: „Wie eine Wiederholung der gegenwärtigen Verunreinigung des Okerwassers vorzubeugen sein werde“ am 28. Januar 1891, in: NLA-StA WF, 12 Neu 5, Nr. 5815, Blatt 34.
[270] GERSON, Verunreinigung, S. 192.
[271] GERSON, a. a. O.
[272] Im Norden waren 1 Zentner = 100 Pfund = 50 Kg.
[273] MÜGGE, Entwicklung, S. 154 ff.
[274] GERSON, Verunreinigung, S. 123.
[275] MÜGGE, Entwicklung, S. 155.
[276] MÜGGE, Entwicklung, S. 160 ff., geht dabei auch auf die jedenfalls von ihm so wahrgenommene Bevorzugung der Kali-Industrie durch die Behörden des Herzogtums ein.