Unterabschnitt 3.4.1

3.4.1.      Entwicklung von Zuckerindustrie und anderer Industriezweige

Der folgende Überblick über die weitere Entwicklung der Zuckerindustrie und anderer Industriezweige ist keinesfalls umfassend oder gar abschließend. Er beschränkt sich vielmehr auf solche Zweige der Industrie, die Auswirkungen auf den Zustand der Gewässer im Herzogtum hatten. Zum einen, weil Wasser – mitunter in großen Mengen – zu Produktionszwecken aus den Gewässern entnommen wurde, zum anderen, weil die Abwässer aus zahlreichen Fabriken den Wasserzügen – zwecks kostengünstiger Entsorgung zunächst mehr oder weniger ungeklärt – wieder zugeführt wurden. Beides traf vor allem auf die Zuckerfabriken zu.

Der sich ab um 1850 rasch entwickelnde Anbau von Zuckerrüben eröffnete den Landwirten neue, günstige Verdienstmöglichkeiten,[230] da neben dem Anbau auch die Verarbeitung der Rüben in der Hand der Bauern lag. Sie errichteten Zuckerfabriken auf genossenschaftlicher Basis, wobei sich die Beteiligten zur Lieferung bestimmter Rübenmengen verpflichteten.[231] Das wiederum ermöglichte nur wenig später die Errichtung einer Reihe von Zuckerfabriken in einem relativ kurzen Zeitraum: Die Mehrzahl der Fabriken waren Aktiengesellschaften, die ihr Kapital aus der Landwirtschaft bezogen. Unter den Aktienbesitzern der frühen Fabriken überwogen Landwirte überwiegend aus den bäuerlichen Hofklassen.[232]

Bei dem nach dem Beitritt Braunschweigs zum Deutschen Zollverein erfolgenden Durchbruch der Industrialisierung nahm die Zuckerherstellung aus Zuckerrüben – noch vor dem „Take-Off“ der Industrialisierung um 1865 – ab den fünfziger Jahren die Rolle des „leading sectors“ [233] ein.[234] Es wurden zahlreiche Zuckerfabriken errichtet und in Betrieb genommen, die regelmäßig auf dem Land inmitten der Rübenanbaugebiete angesiedelt waren. Ab 1849 zunächst in Braunschweig und Königslutter, vor allem aber auf dem Land in einem „wahren Gründungsboom“[235]: Während in der Kampagne 1850/’51 fünf Fabriken 360.000 Zentner Rüben verarbeiteten, waren es bis 1859/’60 14 Fabriken, die etwa 2.098.000 Zentner Rüben verarbeiteten. Nach einer zweiten Gründungswelle ab 1864, während derer die „Neugründungen wie Pilze aus dem Boden schossen“,[236] waren 1866 bereits 25 Fabriken in Betrieb.[237] 1899 schließlich verarbeiteten 32 Fabriken 682.122 t Zuckerrüben zu 91.942 t Rohzucker und 17.854 t Melasse.[238] Das kleine Herzogtum wurde somit von einer „langen Kette blühender Werke durchzogen“[239] und die Fabriken lagen zum Teil nur fünf bis zehn Kilometer voneinander entfernt. Errichtung und Inbetriebnahme von Zuckerfabriken, aber auch deren Veränderungen lassen sich leicht anhand entsprechender Mitteilungen des Staatsministeriums in der GVS nachvollziehen. Zwischen dem 18. August 1865 und dem 28. Januar 1869 veröffentlichte das Ministerium Bekanntmachungen hinsichtlich der Zuckerfabriken in Eichthale, Helmstedt, Hessen, Jerxheim (Änderung), Hedwigsburg (Errichtung und Betrieb)[240], Vechelde (Änderung), Thiede (Änderung), Schöppenstedt (Errichtung und Betrieb), Burgdorf (Anlegung und Betreibung), Broitzem (Anlegung und Betreibung), Königslutter (Änderung), Zuckerraffinerie Braunschweig (Änderung), Burgdorf (Änderungen), Wierthe (Errichtung und Betrieb), Barum (Änderung), Wendessen (Änderung) und Broistedt (Errichtung).[241] Das engmaschige Netz von Zuckerfabriken führte dazu, dass fast jeder am Zuckerrübenanbau interessierte braunschweigische Bauer im Einzugsbereich einer für ihn günstigen Zuckerfabrik lag.[242]

Gleichzeitig erteilte das Herzogliche Staatsministerium auch regelmäßig Patente, wie etwa 1865 an den Ingenieur Mestern zu Wilhelmshütte bei Sprottau (Schlesien) auf

eine hydraulische Presse zur Gewinnung des Saftes aus Zuckerüben, für den Umfang des hiesigen Landes auf den Zeitraum von 5 Jahren“.[243]

Später war für die Zuckerherstellung im Besonderen die flächendeckende Einführung des Diffusionsverfahrens in den 1870er Jahren von herausragender Bedeutung.[244] Anfangs wurden die zerkleinerten Rüben mittels hydrau­lischer Pressen ausgepresst. Durch das Diffusionsverfahren jedoch wurde der Zucker mit Wasser aus den Rübenschnitzeln ausgelaugt, was eine deutliche Produktionssteigerung mit sich brachte. Allerdings wurde für das Diffusionsverfahren viel Wasser benötigt, so dass in Hedwigsburg etwa nicht nur immer mehr Wasser von der dort an der Oker errichteten Zuckerfabrik aus dem kleinen Fluss entnommen werden musste,[245] sondern zugleich entsprechend mehr Abwasser anfiel. Der Rübenanbau erreichte schließlich in den 1870er Jahren ein gleich bleibend hohes Niveau.[246] Auch die Maschinenbauindustrie profitierte von ihm, so dass sich die Verarbeitung der Rüben letztlich auch auf die Industrialisierung der Stadt Braunschweig auswirkte, da sich einige Werke, besonders die Braunschweigische Maschinenbau-Anstalt, darauf spezialisierten, Apparate und Ausrüstungen für Zuckerfabriken herzustellen.[247]

Die Zuckerfabrikation war der Industriezweig, von dem als erstem eine nennenswerte Nachfrage nach Maschinen ausging, so dass die sich in den 50er und 60er Jahren rasch entwickelnde Zuckerindustrie die entscheidende Grundlage für das Wachstum des Maschinenbaus in Braunschweig bildete.[248] Die Maschinenbaubetriebe statteten die braunschweigischen Zuckerfabriken relativ modern aus: u. a. mit Dampfmaschinen und mit hydraulischen Zuckerpressen zur Bereitung des Zuckerrübensaftes, aus dem dann der Rohzucker durch Verdampfung herauskristallisiert wurde.[249] In der Folgezeit blieb die maschinelle Ausstattung der Landwirtschaft und ihrer Nebengewerbe das Hauptproduktionsgebiet des braunschweigischen Maschinenbaus. Um 1861 hatte Braunschweig als einer der Standorte der Maschinenbauindustrie eine überdurchschnittliche Dichte an „Maschinenbauanstalten“ aufzuweisen.[250]

Nachdem die Braunschweigische Maschinenbau-Anstalt das Zuckersaft-Gewinnungs-Verfahren durch Diffusion[251] zur großtechnischen Reife geführt und die Vertreter der Zuckerindustrie sich davon überzeugt hatte, dass sich das neue Verfahren außerordentlich bewährte, wurde das Unternehmen Marktführer in Deutschland für den Bau moderner Zuckerfabriken und exportierte ihre Anlagen in alle Teile der Welt.[252]

Überwiegend in der Stadt Braunschweig selbst war die Konservenindustrie angesiedelt.[253] Hier existierten bereits 1847 zwei Fabriken, die sich aber nicht am Markt behaupten konnten. Seit den 1860er Jahren aber begann nicht zuletzt durch den Einsatz von Dampfmaschinen der Aufschwung der Konservenindustrie.[254] 1873 wurden in Deutschland der Autoklav eingeführt, seit 1889 auch automatische Dosenverschlussmaschinen. Das bevorzugte Produkt in der Vorreiterregion Braunschweig war das damalige Luxusgut Spargel.[255]

In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts stellte sich das Herzogtum Braunschweig somit als ein Gebiet mit entwickelter Gewerbetätigkeit und trotz des späten Beginns der Industrialisierung relativ hohem Industrialisierungsgrad dar. Regional konzentrierten sich die Industriebetriebe auf den nördlichen Hauptteil des Herzogtums, vor allem auf die Landeshauptstadt Braunschweig.


[230] KAUFHOLD, Wirtschaft, S. 726.
[231] SCHILDT, Bauernbefreiung, S. 63.
[232] KAUFHOLD, Wirtschaft, S. 735 m. w. N.
[233] THEISSEN, Entwicklung, S. 359.
[234] THEISSEN, Entwicklung, S. 359 m. w. N.; MÜGGE, Entwicklung, S. 11, verweist auf ein Gesetz der dem Zollverein angehörenden Regierungen von 1861, das den Export von Zucker durch ein Prämiensystem erheblich begünstigte und damit einen „wichtigen Wendepunkt“ darstellte.
[235] KAUFHOLD, Wirtschaft, S. 735.
[236] MÜGGE, Entwicklung, S. 11.
[237] THEISSEN, Entwicklung, S. 359.
[238] HOHNSTEIN, Geschichte, S. 491.
[239] MÜGGE, a. a. O.
[240] Dazu ausführlich (inkl. Plänen und Protokollen von späteren Überprüfungen der Fabrikanlagen) NLA-StA WF, 127 Neu, Nr. 3349.
[241] Zusammenstellung der Bekanntmachungen bei BEGE/GÖRTZ, Teil 7., S. 210-213.
[242] JÜRGENSEN, Anfänge, S. 132.
[243] PAES, Zucker, S. 37.
[244] 1874/’75 hatten 113 der 333 Zuckerfabriken in Deutschland auf das Diffusionsverfahren umgestellt, s. MÜGGE, Entwicklung, S. 43.
[245] Bei der Aufnahme des Produktionsbetriebes 1864 wurden rund 600 l pro Minute entnommen, 1871 die Kapazität auf 900 l pro Minute erhöht und nach Umstellung auf das Diffusionsverfahren konnten die Pumpen der Fabrik rund 3.400 l pro Minute aus der Oker pumpen , S. Mügge, Entwicklung, S. 137 f. und S. 141.
[246] SCHILDT, Bauernbefreiung, S. 63.
[247] SCHILDT, Bauernbefreiung, S. 63.
[248] THEISSEN, Entwicklung, a. a. O.; KAUFHOLD, Wirtschaft, S. 739.
[249] JÜRGENSEN, Anfänge, S. 132.
[250] HENNING, Industrialisierung, S. 152.
[251] Erfunden hatte das Verfahren Julius Robert in Mähren. Seit 1863 begann die 1853 gegründete Braunschweigische Maschinenbau-Anstalt, das Verfahren zur großtechnischen Reife zu führen, was ein beträchtliches Engagement – etwa den Kauf einer Zuckerfabrik – erforderte und letztlich nur durch das technische Können des leitenden Ingenieurs Schöttler gelang, s. SCHILDT, Industrialisierung, S. 792.
[252] SCHILDT, Industrialisierung, S. 792.
[253] Dazu SCHILDT, Industrialisierung, S. 796.
[254] SALEWSKY, Industriezweige, S. 25.
[255] HOFFMANN, Geschichte, S. 48 f.