Abschnitt 2

1.2. Die Übernahme der Regentschaft durch Herzog Wilhelm

Auf Herzog Karl II. folgte Herzog Wilhelm[84] (1830/’31-1884), unter dem Braunschweigs Entwicklung wirtschaftlich und politisch (im Sinne liberal-konstitutioneller Anschauungen) positiv verlief.[85] Während des Aufstandes in Braunschweig hatte sich der im preußischen Militärdienst stehende Wilhelm in Berlin aufgehalten, kehrte nach Rücksprache mit Friedrich Wilhelm III. aber umgehend nach Braunschweig zurück, wo er bereits am 10. September eintraf. Nachdem Wilhelm Bode, unter dem der Magistrat nach der Vertreibung Karls die einzige Autorität im Land darstellte,[86] ihn ausführlich über die jüngsten Ereignisse und deren Ursachen informiert hatte, berief er zunächst den Hofrat Wilhelm von Schleinitz[87] und den Kammerrat Friedrich Schulz[88] in das Staatsministerium.[89] Beide waren dem Herzog von Bode vorgeschlagen worden,[90] der es für unabdingbar hielt, die „verhaßtesten Mitglieder des Ministeriums“ nicht weiter hinzuzuziehen, sondern durch „zwei als einsichtsvolle und redliche Männer bekannte Staatsdiener“ zu ersetzen.[91]

Nach der Flucht seines Bruders war Wilhelm somit seit seinem Eintreffen in Braunschweig am 10. September 1830 auf Grund der fast einhelligen Vertrauensbekundungen der Beamten, des Militärs und der Öffentlichkeit faktisch Regent.[92] In der Folgezeit hatte sein älterer Bruder ihn bevollmächtigt, wenigstens für eine Übergangszeit die Regierung in dessen Namen in der Eigenschaft eines Generalgouverneurs zu führen.[93] Nachdem er die Vollmacht bereits am 16. November widerrufen hatte, versuchte Karl II. mehrfach, sein Herzogtum zurückzuerlangen.[94] Ein halbherziger Versuch, sich der Herrschaft mit Gewalt wieder zu bemächtigen, scheiterte kläglich, da ihn das Militär nicht in das Land ließ.[95] Darauf setzten Preußen und Hannover durch, dass die Bundesversammlung Wilhelm am 2. Dezember beauftragte, die Regierung des Landes bis auf weiteres zu führen. Eine von allen Beteiligten angestrebte endgültige Lösung durch Erklären der Regierungsunfähigkeit Karls war aber u. a. wegen des Widerstands Österreichs zuerst nicht zu erreichen. Den Braunschweigern dauerte das allmählich zu lange: Um der Sache nun selbst ein Ende zu machen, richteten sie an Wilhelm die Bitte, „ihre Erbhuldigung auf verfassungsmäßigem Wege entgegenzunehmen“.[96] Somit wäre es fast dazu gekommen, dass sich ein Volk seinen Fürsten selbst wählte.[97] Ein zu der Zeit nicht unbedingt üblicher und mit Sicherheit auch nicht erwünschter Vorgang,[98] so dass Wilhelm auf den Rat Berlins hin mit Patent vom 20. April 1831[99] erklärte, die Regierung des Herzogtums übernehmen zu wollen, um eine derartige freiwillige Huldigung auf Volksbeschluss zu verhindern. In der Residenzstadt Braunschweig wurde schließlich am 25. April – nunmehr auf Anordnung von oben – der allgemeine Huldigungseid geleistet, so dass der Tag fortan als Termin des Regierungsantritts galt.[100] Die eigenmächtige Thronbesteigung des Herzogs wurde u. a. von Österreich zuerst scharf verurteilt.[101] Am 12. Juli 1832 aber wurde Wilhelm endlich als stimmführendes Mitglied des deutschen Bundes anerkannt, was die staatsrechtliche Legitimation zur Nachfolge auf den Thron seines Bruders beinhaltete.[102]

Seine Rolle als konstitutioneller Monarch spielte der Herzog mit entschiedener Korrektheit, auch um den Preis gesellschaftlicher Vereinsamung.[103] Zu seiner zunehmenden Beliebtheit trugen das frühe Eintreten für die deutsche Einheitsbewegung ab 1848 und für die Selbständigkeit seines Landes im Reichsverband nach 1871 bei. Seine persönlichen Interessen ließ er dabei regelmäßig hinter den Interessen des Landes zurücktreten und entschied, wo es nötig war, sogar entgegen seinen persönlichen Überzeugungen, etwa 1866, als er – nach anfänglicher Neutralität – ein Bündnis mit Preußen schloss.

Anders als sein Vorgänger wählte Wilhelm seine Berater geschickt aus, schenkte erprobten Beamten volles Vertrauen und ließ ihnen freien Raum, ihre Kräfte zu entfalten.[104] Obwohl er am Regieren offensichtlich zunehmend Freude empfand, ließ er seinem Ministerium unter der Leitung des Grafen Werner von Veltheim[105] weitgehend freie Hand.[106] Seinem Tagebuch aus dem Jahr 1836 etwa ist zu entnehmen, dass er in der Regel einmal pro Woche in das Ministerium ging, um sich wichtige Vorgänge vortragen zu lassen.[107] Auch waren seine leitenden Beamten oder höheren Offiziere seine häufigen Tischgäste oder Begleiter bei seinen Jagden und bei abendlichen Spielen.[108]

Das führte zu einem fortwährenden gutem Einvernehmen zwischen Land und Fürsten, so dass selbst die Ereignisse von 1848 ohne jeden persönlichen oder staatsrechtlichen Konflikt an ihm vorübergingen und er bis zu seinem Tod am 18. Oktober 1884 über 50 Jahre lang recht erfolgreich regieren konnte.


[84] Braunschweig-Lüneburg(-Oels), August Ludwig Wilhelm Maximilian Friedrich Herzog von, * 25. Januar 1806 Braunschweig, † 18. Oktober 1884 Schloss Sibyllenort bei Oels / Schlesien, s. BRÜDERMANN, Braunschweig-Lüneburg(-Oels), in: BBL, S. 95 f. sowie ZIMMERMANN, Wilhelm, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, in: ADB, Band 43, S. 4 ff.
[85] KLEIN, Deutsche Verwaltungsgeschichte. Band 2, § 10 S. 744; MODERHACK, Braunschweiger Stadtgeschichte, S. 92.
[86] SCHILDT, Bode, in: BBL, S. 73.
[87] Von Schleinitz, Wilhelm Johann Karl Heinrich Freiherr, * 4. Juni 1774 Blankenburg (Harz), † 3. November 1856 Braunschweig, Jurastudium 1812 in Göttingen und 1816-1818 in Braunschweig, 1818 Assessor beim Landgericht in Wolfenbüttel, 1823 Ernennung zum Hofrat (ordentl. Mitglied des Landgerichts),1830 Ministerialrat, 1831 Geheimrat, 1843 Staatsminister, von 1848-1856 alleiniger Staatsminister an der Spitze des Staatsministeriums; s. RÖMER, Braunschweig, S. 43 m. w. N.; ESCHEBACH, in: BBL, S. 523 f.
[88] Schulz, Friedrich, * 28. Februar 1795 Braunschweig, † 01. Juni 1864 Braunschweig, 1830 Ministerialrat und drittes stimmführendes Mitglied im Staatsministerium, 1837 Prädikat Exzellenz, 1843 Ernennung zum Staatsminister, 3. Mai 1848 Rücktritt als Staatsminister auf eigenen Antrag, nachdem es bei Etatberatungen zu einem Konflikt mit der Ständeversammlung gekommen war, 1852 wurde ihm das Präsidium der Herzoglichen Kammer übertragen; s. SCHEEL, Schulz, in: BBL, S. 553 f.
[89] ZIMMERMANN, Wilhelm, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, in: ADB, Band 43, S 7; HEUSINGER, Geschichte, S. 205.
[90] GREFE, Gefährdung, S. 78.
[91] Zitate bei MÜLLER, Stadtdirektor, S. 122.
[92] RÖMER, Regierung, S. 5.
[93] Vollmacht vom 21. September 1830, s. ZIMMERMANN, Wilhelm, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, in: ADB, Band 43, S. 6 und 7.
[94] Dazu GREFE, Gefährdung, S. 83 ff.; STEINACKER, Braunschweig, S. 221, schreibt von „abenteuerlichen Versuchen“.
[95] SCHILDT, Braunschweig-Lüneburg, in: BBL, S. 93; HEUSINGER, Geschichte, S. 206 ff.; TREITSCHKE, Geschichte IV., S. 109 kommentierte Karls kläglichen Versuch recht deutlich: „Diese widerlichen Narrenstreiche stießen dem Fasse doch den Boden aus.“
[96] ZIMMERMANN, Wilhelm, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, in: ADB, Band 43, S. 7.
[97] Genau genommen war das sogar der Fall, denn letztlich war es den Braunschweigern gelungen, Wilhelm ebenso zu beeinflussen wie die befreundeten Fürstenhäuser und letztlich auch die Bundesversammlung in Frankfurt, um dem ungeliebten Karl eine Rückkehr nach Braunschweig zu verbauen, s. KIEKENAP, Karl und Wilhelm. Band I, S. 258.
[98] GREFE, Gefährdung, S. 88, bezeichnet den Vorgang mit „dieser neuerlichen, unerwünschten, demonstrativen Unterstützung von Unten“; TREITSCHKE, Geschichte IV., S. 115, mit „hochgefährliche[s] Beispiel einer demokratischen Fürstenwahl“.
[99] Patent, den Regierungs-Antritt Sr. Durchlaucht des Herzogs Wilhelm von Braunschweig in den braunschweigischen Landen betrf., Nr. 7. vom 20. April 1831, abgedruckt in der Sammlung von BEGE, Teil 3, S. 201.
[100] RÖMER, Regierung, S. 5.
[101] Sie erfolgte eigenmächtig, weil es sich bei den Agnaten, denen die definitive Feststellung der Regierungsverhältnisse in Braunschweig übertragen worden war, um die „Chefs der beiden regierenden Linien“, also nur um König Wilhelm IV. von England und Herzog Wilhelm selbst handelte, so dass letztgenannter in eigener Sache urteilen durfte, s. GREFE, Gefährdung, S. 88.
[102] RÖMER, a. a. O.; GREFE, Gefährdung, S. 89.
[103] RÖMER, Regierung, S. 6.
[104] ZIMMERMANN, Wilhelm, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, in: ADB, Band 43, S. 9.
[105] Graf von Veltheim, Werner, * 18. Februar 1785, † 5. Juni 1860, 1830-1848 leitender Minister, 16. Oktober 1830 stimmführender Geheimrat, 1. Januar 1843 Staatsminister (Titel), 16. März 1848 Rücktritt; s. RÖMER, Braunschweig, S. 42 m. w. N.
[106] KIEKENAP, Herzog, S. 317.
[107] KIEKENAP, Herzog, S. 317.
[108] KIEKENAP, Karl und Wilhelm. Band I, S. 16.