Abschnitt 1

1.1. Verfassungskonflikt unter Karl II. bis zu seiner Vertreibung

Nachdem Herzog Friedrich-Wilhelm, der „Schwarze Herzog“,[59] 1815 in den Befreiungskriegen bei Quatrebras gefallen war, ging die Krone des auf dem Wiener Kongress wiederhergestellten Landes Braunschweig an seinen noch minderjährigen Sohn Karl.[60] Nach dem testamentarischen Willen Friedrich-Wilhelms übernahm Georg von England-Hannover die vormundschaftliche Regierung.[61] Von seinen Gesetzesinitiativen betraf die wichtigste die Schaffung einer neuen Verfassung: Die Erneuerte Landschaftsordnung (ELO) vom 25. April 1820,[62] die „die alte Landschaftsordnung vom 9. April 1770 zeitgemäß fortbildete“[63]. Gleichwohl wurde sie von Zeitgenossen wie Karl Steinacker[64] etwa für „ein durchaus unvollkommenes, den Lauf der Zeit gewaltsam rückwärts drängendes Werk“ gehalten.[65]

Obwohl Karl 1822 nach welfischem Hausrecht mündig und regierungsfähig geworden war, verlängerte Georg IV. die Vormundschaft um ein weiteres Jahr, so dass der junge Herzog erst am 30. Oktober 1823 die Regierung antrat.[66] Die ersten drei Jahre seiner Regentschaft verbrachte er weitgehend mit Reisen nach Italien, Frankreich und England und überließ in der Zeit seiner Regierung die Initiative. Mit seinem Eingreifen in die Regierungsgeschäfte im Laufe des Jahres 1826 begann für das Land eine Zeit von schweren innen- und außenpolitischen Konflikten.[67] Vor allem hatte er seit seinem Regierungsantritt die neue Verfassung von 1820 weder abgelehnt noch anerkannt. Auch sollten alle „von der ungesetzmäßig verlängerten Regierung“ in der Zeit vom 30. Oktober 1822 bis zum 30. Oktober 1823 erlassenen „Verordnungen und Institutionen“ der speziellen Anerkennung durch den Herzog bedürfen.[68] Dabei gehörte zur Kompetenz einer vormundschaftlichen Regierung auch die Neuordnung der Verfassungsverhältnisse. Im Fall der ELO wurde sie zudem nicht willkürlich vorgenommen, sondern aufgrund des Art. 13 der Bundesakte, die den Mitgliedern des Deutschen Bundes die „Neuordnung der landständischen Verhältnisse zur Pflicht machte“[69]. Somit würde eine Ablehnung der unter der Vormundschaft erlassenen Verfassung einen eindeutigen Verfassungsbruch darstellen,[70] so dass das Patent nicht nur eine politische Provokation, sondern zugleich einen Schritt hin zum Verfassungsbruch darstellte.[71]

Nach gescheiterten Vermittlungsversuchen, in die sich auch Preußen und Österreich eingeschaltet hatten, fasste der Deutsch Bund am 20. August 1829 einen Beschluss, wonach Herzog Karl das Patent vom 10. Mai 1827 zurückzunehmen und sich beim englischen König zu entschuldigen hatte.[72] Durch Verzögerungen bei der Folgeleistung ließ es der junge Herzog indes fast zur Ausführung der vom Bund auf Antrag Hannovers beschlossenen Exekution kommen; erst der letzten Aufforderung vor Ausführung des Exekutionsbeschlusses leistete er Folge.[73]

Auch innenpolitisch steuerte er einen Kurs der Konfrontation: Der Zustand der Innenpolitik zwischen 1827 und 1830 war gekennzeichnet durch ein ständiges Anwachsen der Gegensätze zwischen der Regierung und dem in den Landständen repräsentierten Adel und Bürgertum sowie der freien Bauernschaft. Nicht nur in den Repressalien des Regenten, denen jeder ausgesetzt sein konnte,[74] hatte das Anwachsen der ständischen Opposition seinen Grund, sondern auch in besonderem Maße in der nicht erfolgten Anerkennung der neuen landständischen Verfassung von 1820. Solange Karl in der Verfassungsfrage keine Entscheidung getroffen hatte, gab es für die Landstände keine Einwirkungsmöglichkeit auf seine Politik. Somit war den Landständen daran gelegen, möglichst schnell klare Verhältnisse im Hinblick auf die Anerkennung der Verfassung zu schaffen, um sich im Landtag überhaupt wieder versammeln zu können. Auch hatte die oppositionelle Haltung der Landstände psychologische Gründe: Beim Verfassen der Erneuerten Landschaftsordnung hatten sie mitgewirkt und bis zum Regierungsantritt Karls hatte man nach ihr verfahren. Nun schien es nach dem Patent so, als sollte die Verfassung nach alter, eigentlich überwunden geglaubter willkürlich-absolutistischer Verfahrensweise rückgängig gemacht werden.[75] Das mag die Stände tief getroffen haben, die nach ihrem Selbstbewusstsein und Selbstverständnis an der Gestaltung der Politik des Landes Braunschweig teilnehmen wollten. Sie erklärten sich bereit, mit Karl in Verhandlungen über etwaige Änderungen der Verfassung einzutreten, um ihn zu einer eindeutigen Stellungnahme in der Verfassungsfrage zu bewegen. Darauf ging er nicht ein, sondern hielt stattdessen die Stände zunächst hin und bezog am 9. April 1829 endlich Stellung, als er beim Bundestag Beschwerde einlegte:

…wegen vollführten Umsturzes der alten, rechtmäßigen Braunschweigischen Landesverfassung und Einführung einer neuen, auf verfassungswidrigem Wege und ganz ohne die Concurrenz Seiner jetzt regierenden Herzoglichen Durchlaucht zu Stande gebrachten und unterm 25. April eigenmächtigerweise als Landesgrundgesetz promulgirten Landschaftsordnung…“[76]

Die Beschwerde bedeutete den Beginn eines offen vor dem Forum des Deutschen Bundes ausgetragenen Streites zwischen den Landständen und dem Welfenherzog um die Rechtsgültigkeit der neuen landständischen Verfassung von 1820.

Gegen den Antrag des Herzogs kam am 23. Mai 1829 die Beschwerde der Landstände hinzu, die

Rechtsbeständigkeit der Landschaftsordnung von 1820 festzustellen und diese für die Zukunft unter die Garantie des Bundes zu nehmen“[77].

Zwar gab die eingesetzte Kommission am 19. August 1830 der Bundesversammlung eine klare Empfehlung für ihre Entscheidung, zu einem Bundestagsbeschluss kam es gleichwohl erst am 4. November, also rund zwei Monate nach der gewaltsamen Lösung des Konflikts.

Die Landstände hatten vier Jahre lang – von 1826 bis 1830 – versucht, auf legale Weise ihr Recht zu bekommen. Im Sommer 1830 sah ihre Lage fast hoffnungslos aus: Metternich als konsequenter Verfechter des monarchischen Prinzips würde sich gegen den Sieg der Landstände über einen Monarchen wehren, somit gab es trotz des Antrags der Reklamationskommission wenig Hoffnung, dass sich der Bundestag der Rechtsauffassung der Kommission anschließen würde.

Infolge der großen Missernte und der rigiden Sparpolitik des Herzogs kam im August 1830 eine soziale Notsituation für die unteren Schichten hinzu. Karl II. war während seiner ausgedehnten Reisen im Sommer in Paris mitten in die Julirevolution geraten. Nach Brüssel gereist, erlebte er dort die belgische Revolution mit und kehrte am 13. August nach siebenmonatiger Abwesenheit nach Braunschweig zurück, wo er von den Einwohnern der Hauptstadt kühl empfangen wurde.[78] In den folgenden Tagen bis zum 6. September konnte eine wachsende „Unheil verkündende Stimmung“ im Volk festgestellt werden, auf die am 1. September eine Abordnung der Bürgerschaft unter der Führung des Magistratsdirektors Wilhelm Bode[79] den Herzog aufmerksam machte und um die Einberufung der Stände bat, damit darüber beraten werden könne, wie in der allgemeinen Notlage Abhilfe zu schaffen sei. Auf eine Antwort ließ sich der Herzog indes nicht festlegen. Dabei gab es genug Warnungen, dass Karl eine – wenn auch unbestimmte Gefahr – drohte. So erhielt er anonyme Briefe, in denen ihm nach dem Leben getrachtet und von drohenden Gefahren berichtet wurde,[80] was der Herzog durchaus ernstnahm.

Zu ersten Handlungen mit revolutionärem Charakter kam es am Abend des 6. September, als der Wagen des Herzogs mit Steinen beworfen wurde.[81] Karl war wie gewöhnlich in die Oper gefahren, hatte die Vorstellung aber wegen einer unguten Vorahnung vorzeitig verlassen.[82] Auf dem Bohlweg und vor dem Schloss versammelte sich eine große Menschenmenge, zu weiteren Gewalttaten gegen den Herzog kam es in der Nacht aber nicht mehr. Auch am folgenden Vormittag versammelte sich in der Nähe des Schlosses eine größere Menschenmenge, jedoch ohne dass es zu Ausschreitungen kam. Am 7. September fand sich der Magistratsdirektor mit sechs Abgeordneten im Laufe des Vormittags mehrmals beim Herzog ein, eine Audienz aber wurde ihm erst um 13 Uhr gewährt. Bode unterbreitete verschieden Vorschläge, wie man die Einwohner beruhigen könnte. Auf mehrere ging der Herzog auch ein, dem Wunsch, die Landstände einzuberufen und die Bürgerschaft zu bewaffnen, entsprach er allerdings nicht.

Trotz der Beschlüsse der Herzogs versammelte sich am Abend eine ständig wachsende Menschenmenge vor dem Schloss, worauf der Herzog seine Truppen auf dem Schlossplatz zusammenziehen und nach seinen Anordnungen aufstellen ließ. Sodann kam es zu ersten Ausschreitungen, denen gegenüber das Militär vollständig ruhig blieb.

Weder versuchten Offiziere zu vermitteln, noch schossen Soldaten auf die Braunschweiger Bürger.[83] Der Herzog selbst zog es vor, zu fliehen und überließ dem General Herzberg die Sorge für sein Schloss. Der allerdings konnte die in Zerstörungswut geratene Menge nicht mehr beruhigen. Auch Bode hatte bei seinem Vermittlungsversuch keinen Erfolg mehr, so dass das Schloss schließlich in Flammen aufging, während der Herzog über Hildesheim nach England floh.


[59] Braunschweig-Lüneburg(-Oels), Friedrich-Wilhelm Herzog von, * 9. Oktober 1771 Braunschweig, U 16. Juni 1815 Quatrebras (Belgien), stellte im Krieg von 1809 eine eigene Truppe auf, die aufgrund ihrer schwarzen Uniformen „Schwarze Schar“ genannt wurde und erhielt selbst den Beinamen „Schwarzer Herzog“; s. SCHILDT, Braunschweig-Lüneburg(-Oels), in: BBL, S. 92.
[60] Dazu und zum folgenden: PUHLE, Pokal, S. 6 ff.; BÖSE, Entthronung, S. 2 ff.; KIEKENAP, Karl und Wilhelm I., S. 78 ff.
[61] Dazu sowie zur vorangehenden Entwicklung seit 1807: STEINACKER, Braunschweig, S. 615.
[62] VS Nr. 6.
[63] HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 47 f.
[64] Steinacker, Heinrich Friedrich Karl, * 15. August 1801 Altendorf bei Holzminden, U 2. April 1847 Holzminden, 1818-1821 Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen (zur gleichen Zeit wie F. Breymann und A. Hollandt), 1833 Beginn seiner Arbeit als Führer der liberalen Opposition in der Ständeversammlung, 1842 Wahl zum Präsidenten der Ständeversammlung; s. STEINACKER, Eduard, in: ADB Bd. 35, S. 676-681; FRASSEK, Ralf / Thomas HENNE, in: RÜCKERT / VORTMANN, Juristen, S. 161-163.
[65] STEINACKER, Braunschweig, S. 617.
[66] HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 47 f.; BÖSE, Karl II., S. 23 ff.; GREFE, Gefährdung, S. 40 ff.; STEINACKER, Braunschweig, S. 617.
[67] BÖSE, Entthronung, S. 2.; GREFE, Gefährdung, S. 40 ff., insbes. 47 ff.
[68] STEINACKER, Braunschweig, S. 619; GREFE, Gefährdung, S. 52.
[69] HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 48.
[70] HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 48.
[71] HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 48.
[72] PUHLE, Pokal, S. 8.
[73] Indem er unauffällig in der braunschweigischen Verordnungs-Sammlung 1830 unter dem 22. April (Nr. 9) veröffentlichen ließ, dass er neben anderen (völlig unwichtigen) Verordnungen „in Bezug auf einen Bundestagsbeschluß vom 20. August 1829“ auch sein Patent vom 10. Mai 1827 aufhebe, s. GREFE, Gefährdung, S. 55.
[74] PUHLE, Pokal, S. 9.
[75] PUHLE, Pokal, S. 10.
[76] Zitat bei PUHLE, Pokal, S. 10.
[77] HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 52.
[78] BÖSE, Entthronung, S. 9.
[79] Bode, Wilhelm Julius Ludwig, * 18. Mai 1779 Königslutter, U 20. April 1854 Braunschweig, Jurist, Braunschweiger Kommunalpolitiker, 1825 Magistratsdirektor, 1832 Stadtdirektor, 1848 Rücktritt; s. SCHILDT, Bode, in: BBL, S. 72 f.; HENKE, Bode, in ADB, Bd. 2, S. 2 f.
[80] BÖSE, Entthronung, S. 11.
[81] Dazu sowie zu den weiteren zum Sturz Karls führenden Ereignissen: GREFE, Gefährdung, S. 65; STEINACKER, Braunschweig, S. 620 f.
[82] BÖSE, Entthronung, S. 12.
[83] Die erfolgreiche Erstürmung des Schlosses trotz Anwesenheit des zahlenmäßig jedenfalls nicht unterlegenen Militärs wird heute u. a. mit der Anwesenheit bzw. der „Beteiligung“ des Bürgertums erklärt: Die Menschenmenge vor dem Schlossgarten bestand zu einem erheblichen Teil aus sicherlich über die beginnenden Gewalttaten nur teilweise entrüsteten Mitgliedern der braunschweigischen Mittel- und Oberschicht, auf die feuern zu lassen sich die verantwortlichen Offiziere scheuten. Dazu GREFE, Gefährdung, S. 76 und ausführlich KIEKENAP, Karl und Wilhelm I., S. 189 ff. Zur möglichen Beteiligung des Adels und zur Duldung durch das „besitzende und denkende Volk“, s. STEINACKER, Braunschweig, S. 620 f.