Gegenstand der Untersuchung

Gegenstand der Untersuchung ist die Entwicklung des 1851 und 1876 im Herzogtum Braunschweig erlassenen öffentlichen und privaten Wasserrechts[16] sowie seine Trennung und Auseinanderentwicklung im Kontext von verfassungsrechtlicher Entwicklung, Bauernbefreiung und industrieller Revolution in dem kleinen Staat. Daraus folgt eine Eingrenzung der Untersuchung in zeitlicher, räumlicher und thematischer Hinsicht.

Der Untersuchungszeitraum beginnt mit der Vertreibung des regierenden Herzogs Karl II. und der darauf folgenden Übernahme der Regierungsgeschäfte durch seinen jüngeren Bruder Wilhelm in Folge der braunschweigischen Erhebung im September 1830. Das erste Gesetzgebungsverfahren wurde 1849 eingeleitet, die entscheidenden staatlichen – politischen wie rechtlichen – Rahmenrichtlinien aber bereits unmittelbar in den ersten Jahren nach den Ereignissen im September 1830, insbesondere durch die neue Verfassung für das Herzogtum vom 12. Oktober 1832 geschaffen. So regelte die Neue Landschaftsordnung[17] nicht nur das Gesetzgebungsverfahren zum Teil völlig neu, sondern setzte auch dem Verwaltungshandeln klare Grenzen. Weitere auf Grund verschiedener Vorschriften der Verfassung erlassene Organisationsgesetze reformierten daneben die Verwaltung selbst grundlegend. Die verfassungsrechtliche Zäsur 1832 gestattete es daher, die vorangegangenen Entwicklungen weitgehend auszublenden, doch zum besseren Verständnis der Entwicklung unmittelbar nach der Regierungsübernahme durch Herzog Wilhelm musste wenigstens im Überblick auf die letzten Jahre der Regierungszeit seines Vorgängers bis zu dessen Vertreibung eingegangen werden. Nur vor dem Hintergrund lässt sich die weitere Entwicklung im Herzogtum, insbesondere die Verteilung der politischen Macht und die innenpolitische Zurückhaltung des Fürsten erklären.

Nach 1832 waren es vor allem die Entwicklung der Landwirtschaft und das Aufkommen der Industrie im Herzogtum, die letztlich eine Neuregelung des Wasserrechts erforderlich machten, so dass aus der Zeit vor 1849 neben der verfassungsrechtlichen Entwicklung auch die Agrarreformen ab 1834 und insbesondere deren Auswirkungen auf die Gewässer und ihre Nutzung betrachtet wurden. Die Entwicklung der Landwirtschaft nach 1834 führte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anlässlich der Gewässernutzung zu Konflikten zwischen Landwirtschaft und Stauwerksbetreibern, die letztlich von den angerufenen Verwaltungsbehörden nicht mehr geregelt wurden bzw. geregelt werden konnten. Viele Äußerungen und Argumente der an den Gesetzgebungsverfahren beteiligten Akteure lassen sich nur vor dem Hintergrund der neuen Verfassung und der Entwicklung der Landwirtschaft ab 1832 bzw. 1834 verstehen, so dass beide vorab zumindest im Überblick dargestellt werden mussten.

Nach dem „Take-Off“[18] der Industrialisierung zwischen 1864 und 1867[19] erschwerte insbesondere in der Stadt Braunschweig die Einleitung industrieller und kommunaler Abwässer in die Oker die Versorgung der Einwohner der Stadt mit Trinkwasser bzw. machte sie in einigen Jahren sogar unmöglich. Hinsichtlich der Entwicklung des Wasserrechts im Herzogtum endet der untersuchte Zeitraum 1876 mit Verabschiedung des Wassergesetzes. Die Entwicklung in der Stadt Braunschweig, insbesondere im Hinblick auf die Trinkwasserversorgung und die Abwasserentsorgung wurde darüber hinaus bis zur Inbetriebnahme des Rieselguts Steinhof, mit der 1895 ein neuer Abschnitt in der Geschichte der kommunalen Abwasserbeseitigung Braunschweigs begann, behandelt.

Räumlich begrenzt ist die Arbeit auf das Herzogtum Braunschweig, das nicht nur aufgrund des exemplarischen Charakters seiner Industrialisierung von Interesse ist.[20] Der kleine norddeutsche Staat wurde vor allem nach der Erhebung von 1830 für einige Zeit zum Musterfall eines modernen Verfassungsstaates:[21] Die Neue Landschaftsordnung (NLO) von 1832 machte das Herzogtum Braunschweig zu einem der fortgeschrittensten Länder in der deutschen Verfassungsentwicklung des Vormärz.[22] Sie blieb – geringfügig geändert – bis nach dem Ersten Weltkrieg in Kraft.[23] Auch regierte Herzog Wilhelm über ein halbes Jahrhundert lang und zählt damit zu den deutschen Fürsten mit der längsten Regierungszeit.[24] Schließlich war Braunschweig – anders als das benachbarte Königreich Hannover etwa – nie preußisch beherrscht, so dass das hier untersuchte Wasserrecht vor dem Hintergrund einer vergleichsweise recht stringenten Landesgeschichte entwickelt werden konnte.[25] Nach den Strukturreformen in der Verwaltung ab 1832 blieb das Herzogtum unter dem Ministerium von Schleinitz zwei Jahrzehnte lang einer der bestverwalteten Kleinstaaten.[26] Allerdings brachten die Reformen auch eine für einen Staat von der Größe des Herzogtums Braunschweig kaum noch angemessene Aufblähung des Verwaltungsapparats mit sich,[27] der auch für ein mittleres Königreich ausgereicht hätte.[28] Aus heutiger Sicht indes können die „papiernen Relikte“ des gewaltigen Verwaltungsaufwandes aber nur dankbar zur Kenntnis genommen werden, ermöglichen sie doch einen umfassenden Einblick in das damalige Regierungs- und Verwaltungshandeln.[29] Insgesamt galt das Herzogtum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als einer der am besten regierten und verwalteten Staaten Deutschlands.[30] Im Hinblick auf die Geschichte der Entwicklung des Wasserrechts ist Braunschweig aber nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil hier im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht nur ein, sondern drei Gesetze erlassen wurden, so dass auch die Weiterentwicklung des Wasserrechts durch das Wassergesetz von 1876 im Vergleich zu den rund 25 Jahre zuvor verabschiedeten Gesetzen untersucht werden konnte.

Inhaltlich beschränkt sich die Arbeit auf das Wasserrecht, das die Nutzung und Unterhaltung der Oberflächengewässer und ggf. ihrer Bestandteile (Ufer, Wasserwelle und Bett) sowie deren Veränderungen regelt. Behandelt werden Vorschriften des materiellen Wasserrechts über die Einteilung der Gewässer in öffentliche und Privatgewässer, über ihre Nutzung, insbesondere für die Entwässerung und die Bewässerung des Bodens, sowie über Errichtung und Betrieb von Anlagen zur Nutzung der Triebkraft des Wassers. Daneben interessieren besonders Vorschriften zur Zuständigkeit einzelner Verwaltungsbehörden und zum Verwaltungsverfahren, denn sollte die „Flußverwaltung“ mit neuen Aufgaben betraut werden, musste geregelt werden, welche Behörden im Einzelnen welche Aufgaben wahrnehmen sollten und welches Verfahren dabei zu beachten war.


[16] Siehe oben (Fn. 11 und 15).
[17] NLO vom 12. Oktober 1832, GVS Nr. 18.
[18] Der Begriff „Take-Off“ kennzeichnet das relativ kurze Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung, in dem alle wachstumshemmenden Blockierungen überwunden werden und das Wachstum mehr oder weniger „automatisch“ stattfindet. Die Periode wird gekennzeichnet durch das Anwachsen einer fortschrittlich gesinnten Unternehmerschicht und die freiwillige Umlenkung des Kapitalflusses zur Industrie, s. RITTER, Rolle, S. 12 Fn. 5.
[19] PINGEL, Stadterweiterung, S. 14 m. w. N.
[20] So schätzt es KNOPP, Landesgeschichte, S. 18, ein.
[21] KNOPP, Landesgeschichte, S. 18.
[22] THEISSEN, Industrielle Revolution, S. 100.
[23] THEISSEN, a. a. O.
[24] KIEKENAP, Karl und Wilhelm. Band II, S. 15.
[25] Entsprechend zur Entwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes: HENNE, Verwaltungsrechtsschutz, S. 8 f. m. w. N.
[26] TREITSCHKE, Geschichte IV., S. 123.
[27] Was zu erheblichen Reibungsverlusten führte, die bereits seinerzeit von einzelnen Beamten durchaus gesehen wurden: So urteilt etwa der durch die Oberaufsicht sowohl eines Kreisdirektors als auch eines staatlichen Polizeidirektors geplagte Braunschweiger Stadtdirektor Bode über „sechs unbeschäftigte Kreisdirektionen“, die glaubten, „in ihrem Dünkel den Königl. Preußischen Provinzialpräsidenten oder den Königl. Hannöverschen Landdrosten sich gleichsetzen zu können, um aber einigermaßen beschäftigt zu sein, drängen sie sich in die Localverwaltung hinein und stellen alle Mängel heraus, die unnütze Mittelbehörden zur Schau tragen“. Aus den Erinnerungen Wilhelm Bodes, zitiert bei MÜLLER, Stadtdirektor, S. 150.
[28] STEINACKER, Braunschweig, S. 628, begründet das mit dem Bestreben, der zuvor bestehenden, nicht unproblematischen amtlichen Vermischung heterogener Gegenstände in der „Kammer“ abhelfen zu wollen, wobei man allerdings „einen starken Schritt zu weit“ ging.
[29] So auch THEISSEN, Industrielle Revolution, S. 102.
[30] SCHILDT, Restauration, S. 777.