6. Fazit
Insbesondere mit Inkrafttreten der Neuen Landschaftsordnung im Oktober 1832 wurde nach der Vertreibung Karls II. und der Übernahme der Regierung durch seinen Nachfolger Wilhelm zunächst die politische Ordnung von Stadt und Land Braunschweig grundlegend reformiert. Zusammenfassend lässt sich die Entwicklung Braunschweigs nach 1830 mit den Stichworten Konstitutionalisierung, Liberalisierung und Demokratisierung kennzeichnen. Bereits in den 1830er Jahren wurden ferner die Voraussetzungen für die spätere Industrialisierung geschaffen. Vor allem war die Landwirtschaft als seinerzeit wichtigster Wirtschaftszweig des Landes durch die erfolgreichen Agrarreformen und die für sie günstige Wirtschaftslage gestärkt worden. In Folge der erfolgreichen Agrarreformen intensivierte sich die Gewässernutzung, so dass sich bereits gegen Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also noch vor dem Auftreten erster Industrialisierungsschübe, auch Nutzungskonflikte verschärften. 1849 schließlich war ein konkreter Konflikt zwischen Mühlenbetreibern auf der einen und Landwirten auf der anderen Seite nicht mehr von den angerufenen Verwaltungsbehörden auf der Grundlage des geltenden Wasserrechts zu regeln.
Die Ursachen dafür lagen nicht zuletzt im seinerzeit geltenden Wasserrecht selbst: Das war bereits vor der im 19. Jahrhundert einsetzenden und in seinem Verlauf zunehmend rasanter verlaufenden Veränderung der sozialen Wirklichkeit nur (noch) eingeschränkt zur Regelung von Konflikten oder sonstiger Rechtsfragen rund um die Gewässer und deren Nutzung geeignet. Ein Grund für eine derartige Unzulänglichkeit des Wasserrechts lag in seiner sich über Jahrhunderte hinziehende Entwicklung aus den unterschiedlichsten, zum Teil widersprüchlichen Quellen (römisches Recht, altes deutsches Recht, Sachsenrecht, partikulares Recht der Territorien usw. usf.). Über Jahrhunderte hinweg war ein aus verschiedenen Quellen gespeistes Konglomerat herangewachsen, das bereits in sich nicht mehr frei von Widersprüchen war. Probleme bei seiner Anwendung waren somit bereits systemimmanent angelegt. Daneben war vieles umstritten und zu viele Fragen waren offen, so dass ein Zustand erreicht war, in dem das geltende Recht seine Funktion nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr hinreichend erfüllen konnte: Rechtsschutz und Rechtssicherheit waren nicht mehr gewährleistet, denn abgesehen von Fragen hinsichtlich des materiellen Rechts traten auch Kompetenzkonflikte zwischen Verwaltung und Justiz auf.
Nachdem das Herzogtum Braunschweig spätestens mit Inkrafttreten der NLO 1832 zum Verfassungs- bzw. Rechtsstaat geworden war, traten dort um die Jahrhundertmitte letztlich nicht mehr zu überwindende Schwierigkeiten bei der Anwendung des seit langer Zeit nicht mehr modifizierten, vor allem aber nicht mehr aktualisierten Wasserrechts auf, für die dessen mangelnde Vereinbarkeit mit den Anforderungen des Verfassungs- bzw. Rechtsstaates an das in ihm geltende Recht ursächlich war. Recht im Rechtsstaat ist – jedenfalls im Verhältnis Staat-Bürger – verlässliches, messbares und berechenbares Recht. Dem entsprach das bis 1851 im Herzogtum geltende Wasserrecht nicht mehr: Dort galt in der ersten Hälfte des Jahrhunderts kein geschlossenes, vor allem in sich widerspruchfreies Wasserrecht, sondern es war spätestens mit der Rezeption des römischen Rechts zu einem mehr oder weniger „buntscheckigen“ Wasserrecht gekommen, was dessen Anwendung nicht gerade erleichterte. Die mit der Rezeption aus dem alten römischen Recht als subsidiär geltendes gemeines Recht übernommenen Regelungen kollidierten zum Teil mit alten deutschen Regelungen, so dass das Wasserrecht in sich nicht mehr frei von Widersprüchen war. Das partikulare Wasserrecht modifizierte und verdrängte ggf. zwar das gemeine Recht, erfasste aber nur wenige spezielle Anwendungsfälle.
Auch hatte sich das Wasserrecht nicht zuletzt aufgrund des raschen sozialen und wirtschaftlichen Wandels von der Agrar- zur Industriegesellschaft – Bauernbefreiung, Entwicklung der Landwirtschaft, Urbanisierung in Folge der beginnenden Industrialisierung usw. – zu sehr von der sozialen Wirklichkeit entfernt und erfasste sie damit nicht mehr hinreichend. Viele der naturwissenschaftlichen und technischen Neuerungen des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts konnten die noch auf das römische Recht zurückgehenden Normen des gemeinen Rechts ohnehin noch gar nicht berücksichtigen. Schließlich fehlte es im gemeinen Recht an Regelungen zur Veränderung bzw. zum Ausbau von Gewässern, was 1850 als großer Missstand empfunden wurde.
Gab es keine Möglichkeit mehr zur Rechtsfortbildung durch die Gerichte, entstanden Regelungslücken. Auch das war spätestens mit Inkrafttreten der Neuen Landschaftsordnung im Oktober 1832 der Fall, denn die §§ 32 und 33 NLO schützten das Eigentum und sonstige Privatrechte vor Eingriffen des Staates, indem sie dafür eine gesetzliche Grundlage, zumindest aber eine dringende Notwendigkeit voraussetzten.
Die Schwächen des Wasserrechts offenbarten sich allerdings erst mit der Intensivierung der Gewässernutzung bzw. mit den damit einhergehenden Nutzungskonflikten im Verlauf des 19. Jahrhunderts. 1849 schließlich war das Wasserrecht im Herzogtum Braunschweig endgültig an seinen Leistungsgrenzen angelangt: die zunehmend auftretenden Nutzungskonflikte konnten – wenn überhaupt – nur im Wege von zum Teil langwierigen und kostspieligen Gerichtsverfahren gelöst werden. Die zuständigen Behörden jedenfalls waren wohl nicht zuletzt aufgrund der von den Gerichten strikt überprüften Einhaltung der Gesetzesbindung regelmäßig nicht (mehr) in der Lage, entsprechende Entscheidungen zu treffen.
Das konnte nicht im Interesse der streitenden Parteien sein: Die wollten eine Anlage errichten und betreiben, die Gewässer zur Ableitung des bei der Entwässerung ihres Landes anfallenden Wassers, zur Bewässerung des Ackerlandes oder auf sonstige Art und Weise nutzen. Sie wollten aber nicht kostbare Zeit darauf verwenden, erst einen unter Umständen langwierigen und im Zweifel kostspieligen Prozess mit ungewissem Ausgang zu führen. Insgesamt waren das ungünstige Rahmenbedingungen: Anfangs für die sich entwickelnde, ihre Erträge nach den erfolgreichen Agrarreformen rasch steigernde Landwirtschaft und später für die ebenso rasch expandierende Industrie des Landes. Es war somit nur noch eine Frage der Zeit, bis die Forderung nach dem Tätigwerden des Gesetzgebers laut werden würde.
Die 1849 schließlich von verschiedenen Gemeinden in die Landesversammlung eingebrachte Beschwerde- und Bittschrift war nach alledem nur konsequent. Obgleich deren Urheber lediglich Abhilfe ihrer konkreten Probleme begehrten, nahmen die Abgeordneten und vor allem die Regierung die Eingabe zum Anlass für die folgende, umfangreiche Wassergesetzgebung.
Darauf setzte noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Herzogtum Braunschweig ein Gesetzgebungsverfahren ein, nach dessen Abschluss im Dezember 1851 zwei neue Wassergesetze in Kraft traten.