Unterabschnitt 4.2.1

4.2.1. Öffentliche und private Gewässer sowie „gemeines Wasser“

Von grundlegender Bedeutung war bereits die Frage nach der Einteilung der Gewässer in öffentliche (flumina publica) und Privatgewässer (flumina privata),[426] denn die Zuordnung eines Gewässers zu den öffentlichen oder den privaten entschied u. a. darüber, wer die Unterhaltungslast und damit die für die Gewässerunterhaltung aufzuwendenden Kosten zu tragen hatte. Die Unterhaltung[427] der öffentlichen Gewässer oblag in Braunschweig unstreitig dem Staat.[428] Gestritten wurde aber gelegentlich – mitunter auch vor den Gerichten[429] – über die Rechtsnatur einzelner zu unterhaltender Gewässer, d. h. über ihre Zuordnung zu den öffentlichen oder den Privatgewässern.

Vor allem aber bestimmte die Einteilung über die mögliche Nutzung des Gewässers: Ein öffentlicher Fluss unterlag dem Gemeingebrauch,[430] ein Privatgewässer dagegen unterlag zunächst der Verfügungsgewalt des Grundstückseigentümers, auf dessen Grund und Boden es sich befand.

Über die Merkmale, anhand derer ein öffentlicher von einem Privatfluss unterschieden werden konnte, bestand auch seinerzeit schon von jeher viel Streit.[431]

Nach römischem Recht war der öffentliche Fluss durch die Stetigkeit der Wasserströmung gekennzeichnet.[432] Es reichte demnach nicht aus, wenn es sich um einen unbeständig fließenden Fluss (flumina torrentia) handelte, der lediglich während einer gewissen Zeitspanne im Jahr – regelmäßig im Winter und bei großen Regengüssen – Wasser führte.[433] Vielmehr musste es sich um stetig fließende („perennierende“) Flüsse (flumina perennia) handeln, die – etwa während des Sommers – nicht vertrocknen.[434] Uneinigkeit herrschte bereits darüber, ob die Römer tatsächlich alle fließenden Gewässer in öffentliche und private einteilen wollten, oder ob nicht vielmehr kleinere Gewässer, also Bäche, ausgenommen waren. Einer Auslegung des römischen Rechts nach, die bereits im älteren Schrifttum,[435] aber auch noch zum Teil in der Literatur des 19. Jahrhunderts vertreten wurde,[436] wurden alle dauerhaft fließenden Gewässer unabhängig von ihrer Größe zu den öffentlichen Flüssen gezählt. Abgestellt wurde zum Teil vielmehr auf den Gemeingebrauch am Wasser: Öffentliche Gewässer waren demnach alle, die dem Gemeingebrauch überlassenen waren – unabhängig von ihrer Größe.[437]

Andere stellten primär auf die Größe der Gewässer ab: Die größeren, sog. Flüsse, gehörten danach zu den öffentlichen Sachen „und zwar ohne Unterschied, ob sie schiffbar sind oder nicht“.[438] Die kleineren Bäche dagegen waren schlicht Zubehör zu den Grundstücken, die sie bewässerten und befanden sich daher im Privateigentum. Bei den kleinen Bächen war es möglich, andere von ihnen auszuschließen, wodurch sie überhaupt erst „des Eigentums fähig wurden“ und damit Privateigentum an ihnen möglich wurde. Die großen Flüsse dagegen konnten sich nur im Eigentum des Staates befinden, den sie durchflossen.[439] Dabei ließ es Gesterding aber nicht bewenden, denn ein Problem drängte sich auch ihm auf: Die Größe des Gewässers alleine konnte nicht ausreichen, denn

wie groß muss denn ein fließendes Gewässer seyn, damit es für einen Bach – flumen privatum – oder damit es für einen Fluß – flumen publicum – gelten könne?“[440]

Daher traten weitere Abgrenzungskriterien hinzu. Entsprechend dem römischen Recht sollte es auf die Meinung des Volkes bzw. der am Gewässer ansässigen Anwohner ankommen. Danach sollten Schlüsse aus dem Namen gezogen werden: War in der betreffenden Gegend von einem „Bach“ die Rede, dann musste es sich bei dem jeweiligen Gewässer wohl auch um einen Bach handeln.[441] Schließlich wurde auf die Beständigkeit des Laufs abgestellt. Da aber nicht ersichtlich war, in welchem Verhältnis die drei Abgrenzungskriterien zueinander standen, sollte die Beständigkeit des Laufs als das letztlich entscheidende Kriterium zur Abgrenzung herangezogen werden, so dass ein beständig fließendes Gewässer als öffentlicher Fluss angesehen wurde.[442]

Einer anderen Ansicht zur Folge sollte das jedoch nicht ausreichen, sondern nur das fließende Wasser sollte ein öffentlicher Fluss sein, das

entweder seiner Größe wegen unbedingt für einen Fluß zu halten ist, oder von den Angrenzenden als ein solcher bezeichnet wird, je nachdem die Größe dies von selbst außer Zweifel setzt oder nicht.“[443]

Nach einer jüngeren Auffassung wurde erneut auf Begriffe, nun den des „Flusses“ (flumen) abgestellt und ihm eine eigene Bedeutung als Abgrenzungskriterium beigemessen. Danach sollten die öffentlichen Gewässer von den Privatgewässern nun doch anhand ihrer Bezeichnung als „Fluß“ und damit ihrer Größe abgegrenzt werden.[444] Zusätzlich wurde eine dritte, vermittelnde Kategorie von Gewässern angenommen: das so genannte gemeinschaftliche Wasser.[445] Das gemeinschaftliche Wasser sollte mit dem öffentlichen gemein haben, dass sein Lauf nicht vom Oberlieger zum Nachteil der Unterlieger gehemmt werden durfte.

Der kleine Einblick in das durchaus uneinheitliche[446] Schrifttum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt bereits, welche Probleme die Abgrenzung der öffentlichen Gewässer von den Privatgewässern allein auf Grund des römischen bzw. gemeinen Rechts den Rechtswissenschaftlern und den Rechtsanwendern bereitete. Erschwerend kam noch das alte deutsche Recht hinzu, das ebenfalls zwischen öffentlichen und privaten Gewässern unterschied, dabei aber die römischen Grundsätze einschränkte, indem die seinerzeit wohl herrschende Ansicht auf die Schiff- oder Flößbarkeit der Gewässer abstellte.[447] Danach wurden nur die für die Schiff- und Floßfahrt geeigneten Flüsse zu den öffentlichen Gewässern gezählt.[448] Dabei war das Kriterium der „Schiff- und Flößbarkeit“ zur Abgrenzung privater von öffentlichen Flüssen nur bedingt geeignet. Unter dem Floßrecht (ius grutiae feu ratium) wurde das Recht verstanden, Holz ohne Schiff durch den bloßen Verlauf des Wassers den Strom hinab zu führen,[449] wobei die Flöße in Scheit- und Zimmerflöße eingeteilt wurden, je nachdem, ob die Holzscheite einzeln oder aneinander befestigt geflößt wurden.[450] Das Floßrecht bzw. das Flößen wurde als eine Art der Schifffahrt angesehen, so dass es nur an den größeren, mit Schiffen befahrbaren Flüssen möglich sein sollte.[451] Damit war jeder schiffbare Fluss zugleich flößbar, aber nicht jeder zumindest für Scheitflöße hinreichend große Fluss automatisch flößbar, so dass das Merkmal der „Flößbarkeit“ restriktiv ausgelegt wurde. Nachdem man in Braunschweig aber die Harzflüsse wie etwa die Radau (bereits 1841) oder die Oker (ab Anfang der 1860er Jahre) nicht mehr zum Holzflößen nutzte,[452] kam als flößbarer Fluss nur noch die Weser in Betracht. Sie war zugleich der einzige Fluss des Herzogtums, der seinerzeit als schiffbar angesehen wurde,[453] nachdem die Schiffahrt auf der im Mittelalter noch dazu geeigneten Oker eingestellt worden war.[454] Leine, Aller und Ohre dagegen waren zur Schifffahrt nicht geeignet, jedenfalls soweit ihre das Herzogtum durchfließenden Abschnitte betroffen waren.[455] Die Weser tangierte das braunschweigische Gebiet lediglich an dessen Peripherie über die Exklave Amt Thedinghausen, so dass bei der Wassergesetzgebung in Braunschweig nicht auf das alte deutsche Kriterium der „Flößbarkeit und Schiffbarkeit“ eines Flusses zur Abgrenzung der öffentlichen Flüsse von den Privatgewässern zurückgegriffen werden konnte, da sonst alle übrigen Gewässer des Herzogtums aus der Kategorie der „öffentlichen Flüsse“ heraus gefallen wären.

Nach altem deutschen Recht konnten Privatgewässer auch durch Schiffbarmachung in öffentliche Flüsse verwandelt und damit zugleich zu Staatseigentum werden.[456] Die ursprünglichen Eigentümer mussten die Expropriation, also (regelmäßig zwangsweise) Abtretung ihres Eigentums dulden, waren dafür aber zu entschädigen.[457]

Schwab brachte es 1847 in seiner umfangreichen Schrift auf den Punkt: Die meisten der herangezogenen Abgrenzungskriterien (Schiffbarkeit, Größe, Stetigkeit des Laufs, öffentlicher Gebrauch, Bezeichnung als „Fluß“ usw.) taugten nur bedingt, denn sie sind viele zu wage, zu unbestimmt und damit zu unsicher.[458] Letztlich ging es vor allem darum, ob und wie die Begriffsbestimmungen des römischen Rechts mit den Aussprüchen der alten deutschen Rechtsbücher, den Auffassungen der zeitgenössischen Gesetzgebung und schließlich der Praxis in Einklang gebracht werden konnten.[459] Um derartige Schwierigkeiten bei der Zuordnung einzelner Wasserzüge in Braunschweig zu den öffentlichen oder den Privatgewässern künftig zu vermeiden, musste das partikulare Wasserrecht de lege ferenda eindeutige Regelungen hierzu enthalten. Es mussten geeignete Kriterien zur Abgrenzung der öffentlichen von den Privatgewässern gefunden werden.


[426] Vgl. etwa den Entwurf eines Wassergesetzes für Sachsen, in: Sächsisches Archiv für bürgerliches Recht und Prozeß, Ergänzungsband 1902, S. 46.
[427] „Unterhaltung“ meinte vor allem die Sicherung des stetigen Wasserabflusses zur Verhütung von Überschwemmungen durch Beseitigung jedweder Hindernisse.
[428] 6. ordentl. Landtag von 1848-1851, Prot. Nr. 162, Anl. 1, S. 6 f.
[429] Siehe dazu aus späterer Zeit etwa einschlägige Entscheidungen des Herzoglichen Verwaltungsgerichtshofs in NLA-StA WF, 12 Neu 13, Nr. 4166.
[430] Statt vieler: RISSMANN, Wasserrecht, S. 17.
[431] SCHWAB, Conflicte, in: AcP, Beiheft zu Band 30 (1847), S. 12 m. w. N.
[432] STEINACKER, Privatrecht, S. 355 Fn. 1 m. w. N.
[433] CANCRIN, Abhandlungen. Band 1, S. 38.
[434] CANCRIN, a. a. O.; SCHWAB, in: AcP, Beiheft zu Band 30 (1847), S. 13.
[435] MEURER, Wasser Recht […], S. 53; CANCRIN, Abhandlungen. Band 1, S. 38, zählte dazu gleichermaßen die „schiffreichen“ wie „unschiffreichen“ Flüsse und Bäche: Er stellte allein auf den „stetswährenden (sic!) Lauf“ ab.
[436] Vgl. MAURENBRECHER, Lehrbuch, S. 395, nach dessen Auffassung auch die im Eigentum von Gemeinden stehenden Flüsse, Bäche und Seen „öffentliche Wässer, aber nur in Betreff der Gemeindemitglieder“ waren.
[437] Vgl. MAURENBRECHER, Lehrbuch, S. 395.
[438] GESTERDING, Beiträge, in: AcP Band 3 (1820), S. 60.
[439] GESTERDING, a. a O.
[440] GESTERDING, a. a. O., S. 61.
[441] GESTERDING, Beiträge, in: AcP, Band 3 (1820), S. 62.
[442] GESTERDING, a. a. O., S. 63.
[443] FUNKE, Beiträge, in: AcP, Band 12 (1829), S. 277.
[444] SCHWAB, Conflicte, in: AcP, Beiheft zu Band 30 (1847), S. 13 ff.
[445] BRINZ, Lehre (Schluß), in: Blätter für Rechtsanwendung zunächst in Bayern, 1850, S. 209 (215).
[446] So nahm das seinerzeit schon FUNKE, Beiträge, in: AcP, Band 12 (1829), S. 274, wahr.
[447] STEINACKER, Privatrecht, S. 355 Fn. 1 m. w. N.; MAURENBRECHER, Lehrbuch, S. 393 m. w. N.
[448] SCHWAB, Conflicte, in: AcP, Beiheft zu Band 30 (1847), S. 19.
[449] DANZ (1796), Handbuch, S. 416.
[450] DANZ (1796), Handbuch, S. 417.
[451] DANZ (1796), Handbuch, S. 417; KRÜLL, Privatrecht, S. 335.
[452] NLA-StA WF, 12 Neu 3, Nr. 492, S. 232.
[453] LAMBRECHT, Herzogthum, S. 119; KNOLL/BODE, Herzogtum, S. 138.
[454] Zur Schiffbarkeit und entsprechenden Unterhaltung der Oker im 14. und 15. Jhd. s. KNOLL/BODE, Herzogtum, S. 139.
[455] NLA-StA WF, 12 Neu 3, Nr. 492, S. 232.
[456] Vgl. MAURENBRECHER, Lehrbuch, S. 395.
[457] MAURENBRECHER, Lehrbuch, S. 395.
[458] SCHWAB, Conflicte, in: AcP, Beiheft zu Band 30 (1847), S. 12.
[459] SCHWAB, Conflicte, in: AcP, Beiheft zu Band 30 (1847), S. 13.