Abschnitt 3.4

3.4. Die Industrialisierung im Herzogtum ab 1850 und ihre Folgen für die Gewässer

Nach der anfangs noch verzögerten Industrialisierung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts traten ab etwa 1850 auch in Braunschweig von Zeit zu Zeit regelrechte „Industrialisierungsschübe“[225] auf. Nicht selten waren die neu errichteten Fabriken auf das Vorhandensein von Flüssen und Bächen angewiesen: Das Wasser daraus wurde als Rohstoff, als Betriebsmittel im Fabrikprozess oder auch als Lebensmittel für die Arbeiter und deren Familien benötigt. Daneben wurden die Fließgewässer genutzt, um die in den Fabriken anfallenden Abwässer schnell und relativ kostengünstig entsorgen zu können. Somit wuchs die Bedeutung des Wassers als Produktionsmittel bzw. als Standortfaktor und die Bedeutung der Oberflächengewässer als Medium des Schadstofftransports für die wachsende Industrie. Das führte u. a. zu einer zunehmenden Verschmutzung des Wassers, die eine Reihe weiterer Probleme etwa bei der Trinkwasserversorgung der Bevölkerung mit sich brachte. Entgegengesetzte Interessen hinsichtlich des Wassergebrauchs wurden dabei recht früh deutlich: etwa die der Ober- und die der Unterlieger, der Wasser brauchenden und die der Wasser verschmutzenden Aktivitäten, die der Gewerbe und die der auf Trinkwasser angewiesenen Menschen.[226] Verschiedene Interessenverbände der Industrie, der Landwirtschaft und der Fischzucht stritten um die Nutzung der Wasserläufe als „Vorfluter“ für ihre Abwässer, als Lieferanten eines sauberen Nutzwassers oder als Lebensraum für eine artenreiche Fisch-Fauna.[227] Auch kam es zu Konflikten zwischen Ober- und Unterliegern, wenn die Oberlieger zum Teil ihre Industrie auf Kosten des/der Unterlieger(s) subventionierten, indem sie etwa Industriebetrieben die Einleitung mehr oder weniger ungeklärter Abwässer in die Vorfluter gestatteten.[228]

Besonders geprägt wurde die Braunschweiger Industrie durch ihre enge Verbindung zur Landwirtschaft,[229] so dass – zeitlich mehr oder weniger parallel zum ersten Gesetzgebungsverfahren von 1849 bis 1851 – nicht zuletzt in Folge der erfolgreichen Agrarreformen die Industrialisierung in Braunschweig einsetzte. Bei allen positiven Auswirkungen des Wirtschaftswachstums, blieb das nicht ohne negative Folgen für die Wasserzüge des Herzogtums.


[225] Mit „Industrialisierungsschub oder -schüben“ wird der Vorgang der Industrialisierung bezeichnet, wenn er innerhalb weniger Jahre, d. h. stürmisch verlief. Alternativ ist auch die Bezeichnung „industrielle Revolution“ denkbar (Anlehnung an den Begriff „französische Revolution“), s. HENNING, Industrialisierung, S. 112; WIEACKER, Pandektenwissenschaft, S. 56, versteht darunter „die totale Mobilisierung der Produktion, des Kapitals und des Bodens, die sich durch die Überführung einer feudal, zünftisch oder merkantilistisch gebundenen Wirtschaftsverfassung in eine freizügige und expansive Unternehmergesellschaft vollzog“.
[226] BENÖHR, Umweltrechtsentwicklungen, S. 54.
[227] BÜSCHENFELD, Flüsse, S. 11.
[228] Das führte später zu Konflikten etwa mit dem preußischen Regierungsbezirk Lüneburg, s. dazu NLA-StA WF, 12 Neu 13 d, Nr. 5431 und unten, Erster Teil, 3.4.3.4., S. 85 f.
[229] THEISSEN, Entwicklung, S. 363.