Abschnitt 3.2

3.2. Die Anfänge der Zuckerrübenindustrie

Bei den in einem 1841 erschienenen „historisch-topographischen Handbuch“ für die Stadt Braunschweig genannten wichtigen Erzeugnissen der dortigen „Fabriken“ handelte es sich um die traditionellen Manufakturwaren,[197] die auch schon in den Tabellen des 18. Jahrhunderts genannt wurden.[198] Abgesehen vom Rübenzucker, dessen Produktion allerdings zunächst nur in zwei kleinen Fabriken ohne Dampfkraft betrieben wurde.

Rund ein Vierteljahrhundert später hingegen hatte sich die Herstellung von Zucker aus Zuckerrüben zum „leading sector“ der Industrie im Herzogtum entwickelt. Die Entwicklung wurde durch eine Reihe zusammenwirkender Faktoren ermöglicht oder jedenfalls begünstigt: Zunächst eine gestiegene Produktivität der Landwirtschaft in Folge der Agrarreformen ab 1834, durch die zum einen hinreichend Zuckerrüben als Rohstoff, zum anderen genug Kapital zur Gründung von Aktienzuckerfabriken zur Verfügung standen.[199] Die Landwirte finanzierten den Aufbau der leistungsfähigen Zuckerindustrie weitgehend selbst, scheinen somit über erhebliches Geldkapital verfügt zu haben.[200] Hinzugekommen waren naturwissenschaftliche bzw. technische Fortschritte, die die industrielle Gewinnung von Zucker aus Rüben überhaupt erst ermöglichten.

Bereits 1747 berichtete der Professor an der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften Andreas Sigismund Marggraf über das Ergebnis seines erfolgreichen Versuchs, in den damaligen Kriegsnot-Verhältnissen einen Ersatz für das Zuckerrohr zu entdecken.[201] Allerdings war er Theoretiker, kein Mann des praktischen Einsatzes und überdies war in den Notzeiten der Kriege Friedrichs des Großen kaum mit dessen Interesse an einer staatlichen Auswertung zu rechnen, so dass die Entdeckung zunächst ungenutzt blieb. Erst der Landwirt und Chemiker Franz Karl Achard entdeckte beim Aufräumen des Laboratoriums seines Vorgängers Marggraf dessen Versuchsergebnisse und brachte sie zur Nutzanwendung.[202] Zuvor hatte bereits 1787 der Arzt Dedekind aus Königslutter aufgrund eigener Forschung der Regierung in Braunschweig mitgeteilt, wie die Zuckergewinnung aus der weißen Runkelrübe möglich sei, hatte aber keine Anerkennung gefunden.[203] So war es Achard, der 1802 die erste Rübenzuckerfabrik der Welt in Betrieb setzte.[204]

Die ersten in den 1830er Jahren in Braunschweig errichteten Fabriken arbeiteten noch ohne Dampfkraft, mit offenem Feuer und Göpelwerken. Es fehlten Fabriken für Maschinen und Ersatzteile. Demgegenüber verarbeitete die erste 1849 auf dem Land, inmitten der Anbauflächen, errichtete Fabrik (Uefingen) bereits in ihrer ersten Kampagne etwa 400 dz Rüben in 24 Stunden, was auf bessere Verarbeitungseinrichtungen (u. a. Dampf- statt Pferdekraft) hinweist.

Die dargestellten technischen Fortschritte waren es nicht allein, die das zeitweise rasante Wachstum der Rübenzuckerindustrie ermöglichten. Dank der erfolgreichen Agrarreformen und der durch sie erreichten Ertragssteigerungen stand der Rohstoff in Form von Rüben in ausreichender Menge zur Verfügung. Entsprechendes galt für das Kapital zur Gründung von Fabriken. Neben dem „Rohstoff“ im engeren Sinne wurden Arbeitskräfte für die neu errichteten Zuckerfabriken benötigt, Braunkohle als Energieträger zum Betrieb der Maschinen und nicht zuletzt Wasser in hinreichender Menge und guter Qualität für den Fabrikbetrieb, aber auch als Lebensmittel für die Arbeiter und ihre Familien.

Die Zuckerfabriken konnten zunächst Arbeitskräfte aus der im Rückgang befindlichen Harzer Hüttenindustrie übernehmen.[205] Als Energieträger stand vor allem die südlich von Helmstedt abgebaute Braunkohle zur Verfügung. Seit 1816 vom Staat betrieben, gewann der Abbau durch den Absatz an Zuckerfabriken an Bedeutung,[206] die ein Hauptabnehmer der Braunkohle waren.[207]

Das als Produktionsfaktor wichtige Wasser konnten die Fabriken zumeist aus den u. a. im Harz entspringenden kleinen Flüssen wie Oker, Fuhse und Innerste sowie deren Zuläufen entnehmen.[208] Auch konnten sie das bei der Produktion anfallende Abwasser zunächst noch ungeklärt in die Vorfluter einleiten und damit kostengünstig entsorgen.

In Folge des Auf- und Ausbaus des Eisenbahnnetzes ab 1838 profitierten sie schließlich von den nun vorhandenen relativ günstigen Transportmöglichkeiten.[209] Die wurden benötigt, um u. a. den in den verschiedenen Zuckerfabriken hergestellten Rohzucker zu den weiter­verarbeitenden Raffinerien zu befördern. Die 1838 errichtete Bahnlinie von Braunschweig nach Bad Harzburg war die erste staatliche Bahnstrecke in Deutschland überhaupt. Sie begründete nicht nur für Braunschweig das Eisenbahnzeitalter, sondern förderte auch den Fremdenverkehr.[210] Das in den Folgejahren rasch ausgebaute Eisenbahnnetz[211] begünstigte damit auch die Entwicklung der Industrie im Herzogtum Braunschweig.

Das konnte aber nicht ausreichen. Über derartige – eher naturwissenschaftlich-technische – Voraussetzungen hinaus mussten auch die politischen bzw. rechtlichen Rahmenbedingungen günstig sein. Der Absatz der industriell erzeugten Produkte durfte nicht durch eine ungünstige Zollpolitik behindert werden. Obgleich die ersten Ansätze zur Begründung einer eigenen Zuckerindustrie im Herzogtum zumindest bis in die Spanne zwischen 1830 bis 1835 zurückreichen,[212] war die Rübenzuckerproduktion zunächst unrentabel: Aufgrund der braunschweigischen Zollpolitik stand der Preis für importierten Rohrzucker sehr bzw. zu niedrig, so dass „jener so segensreiche Gewerbezweig“ drüben zu hoher Blüte gelange, hüben dagegen „sich nicht erstarken könne“.[213] In der benachbarten preußischen Provinz Sachsen nämlich hatte die Rübenzuckerproduktion bereits in den dreißiger Jahren unter dem Schutz hoher Einfuhrzölle einen steilen Aufschwung genommen.[214] Insofern ist Braunschweig auch ein Musterbeispiel für die industrialisierungshemmende Wirkung der Kleinstaaterei.[215]

Mit dem Beitritt des Herzogtums zum Deutschen Zollverein am 1. Januar 1842[216] aber änderte sich – nach anfänglichen Schwierigkeiten –[217] die Situation auch für Braunschweig grundlegend: So stellte bereits 1843 der Vorstand der Kaufmannschaft zu Braunschweig fest, dass er in keinem Jahr solche Geschäfte gemacht habe, wie im verflossenen. Die Zuckervorräte waren restlos ausverkauft.[218]

Neben technischem Fortschritt, Agrarreformen, Auf- und Ausbau des Eisenbahnnetzes, den insgesamt günstigen Produktionsbedingungen ermöglichte demnach in Braunschweig insbesondere die Zollpolitik die Ansiedlung und den wirtschaftlichen Erfolg der Rübenzuckerindustrie.


[197] SCHRÖDER/ASSMANN, Braunschweig, S. 164.
[198] THEISSEN, Entwicklung, S. 358 f.
[199] Siehe oben, Erster Teil, 3.1., S. 51 ff.
[200] KAUFHOLD, Wirtschaft, S. 747.
[201] WOLFF, Aktien-Zuckerfabriken, S. 295; MÜGGE, Entwicklung, S. 7.
[202] MÜGGE, a. a. O.
[203] PAES, Zucker, S. 35.
[204] WOLFF, Aktien-Zuckerfabriken, S. 296; MÜGGE, Entwicklung, S. 8; PAES, Zucker , S. 14.
[205] JÜRGENSEN, Anfänge, S. 132.
[206] KAUFHOLD, Wirtschaft, S. 736.
[207] SCHILDT, Industrialisierung, S. 789.
[208] JÜRGENSEN, a. a. O.
[209] 1838: erste staatliche Eisenbahnlinie in Deutschland von Braunschweig in Richtung Harz, 1843: Eisenbahn Braunschweig – Oschersleben, 1844: Eisenbahn Braunschweig – Hannover, s. JÜRGENSEN, a. a. O.
[210] Die Strecke wurde u. a. deshalb ein Erfolg, weil Amsberg, der sie geplant hatte, mit ihr touristische Attraktionen verband, wie das Türkische Kaffeehaus in Wolfenbüttel sowie das Solebad und die Kuranlagen in Harzburg, s. KAUFHOLD, Wirtschaft, S. 730.
[211] Dazu ausführlich SCHULTZ-NIBORN, Eisenbahnen, S. 1 ff.
[212] TACKE, Rübenzuckererzeugung, S. 63.
[213] TACKE, Rübenzuckererzeugung, S. 66.
[214] THEISSEN, Entwicklung, S. 359 m. w. N.
[215] THEISSEN, Entwicklung, S. 358.
[216] Inkrafttreten des Vertrags, s. WITTENBERG, Zollpolitik, S. 86.
[217] WITTENBERG, Zollpolitik, S. 87.
[218] WITTENBERG, Zollpolitik, S. 88.