Abschnitt 3.1

3.1. Bauernbefreiung und Flurbereinigung ab 1834

Bereits in den 1820er Jahren war in Braunschweig die Ablösung der grundherrlichen Bindungen diskutiert worden,[183] der entscheidende Anstoß ging allerdings erst von den politischen Ereignissen 1830 aus. Die alten Regelungen, d. h. die grundherrlichen wie die genossenschaftlichen Bindungen der Bauern, galten als Hemmnis für eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität und wurden dementsprechend von der Agrarwissenschaft und von wirtschaftlich aktiven Bauern kritisiert.[184]

Unmittelbar nach der Eröffnung des ersten ordentlichen Landtages am 30. Juni 1833 legte daher die Regierung der Ständeversammlung einen ganzen „Cyclus von Gesetzentwürfen, welche die agrarischen Verhältnisse betrafen,“[185] vor: eine Ablösungsordnung, eine Gemeinheitsteilungsordnung, ein Gesetz über die Organisation der zur Ausführung beider Gesetze zu errichtenden Landesökonomiekommission und das dabei anzuwendende Verfahren sowie ein Gesetz über die den Ablösenden von der Landesleihhausanstalt zu gewährenden Darlehen.[186]

Am 20. Dezember 1834 schließlich wurden die beiden – bereits 1831 angekündigten – entscheidenden Gesetze verkündet: die Ablösungs-Ordnung[187] für die Ablösung der grundherrlichen Rechte und Lasten und die Neue Gemeinheits-Teilungs-Ordnung[188], welche die Aufteilung der Gemeinheiten und die Aufhebung des Flurzwangs regelte.[189]

Grundgedanke der Ablösungsordnung war, die Abgeltung alle Verpflichtungen der Landwirte durch eine einmalige Zahlung zu ermöglichen. Da die Verpflichteten die geforderten Ablösungsgelder nicht mit einem Schlage bezahlen konnten, verpflichtete ein weiteres Gesetz vom 20. Dezember 1834 das Herzogliche Leihhaus (die spätere Braunschweigische Staatsbank), den Bauern die Ablösungssumme zu 4 % Zinsen und 1 % Tilgung unkündbar vorzuschießen.[190]

Nicht nur innerhalb der einzelnen Gemeinden, auch über Gemeinde- und sogar Staatsgrenzen hinweg gab es „Gemeinheiten“, d. h. zum einen gemeinsame Besitztümer und Rechte, zum anderen die Gesamtheit der daran Berechtigten.[191] Die Weiden der Gemeinheiten waren zumeist stark vernachlässigt bzw. verwahrlost, da jeder Berechtigte das gemeinsame Eigentum möglichst ausnutzen, es aber nicht pflegen wollte. Daher waren die Gemeindeweiden regelmäßig überweidet.

Auch der Flurzwang wirkte sich hemmend auf den landwirtschaftlichen Fortschritt aus: Die Felder waren häufig nicht direkt zugänglich, sondern nur über die Felder anderer zu erreichen. Um die Bearbeitung trotzdem zu ermöglichen, musste das entfernteste Feld zuerst bearbeitet werden, dann das daneben liegende usw. Geerntet werden musste in umgekehrter Reihenfolge, was nur durchführbar war, wenn alle Eigentümer im jeweiligen Flurstück dasselbe anbauten. Da sich alle auf den gemeinsamen Anbau einer Frucht einigen mussten, musste auch der Fortschritt sich gewissermaßen im Gleichschritt vollziehen, was naturgemäß langsam ging.[192]

Ein Ziel der Bauernbefreiung war daher neben der Ablösung der Verpflichtungen gegenüber den Grundherren die Separation, d. h. die Trennung und Auflösung der Gemeinheiten.

Bevor sie in den einzelnen Dörfern durchgeführt werden konnte, waren im Wege der sog. Generalseparation ggf. Ansprüche des Dorfes gegenüber der Nachbarschaft geltend zu machen bzw. mussten die Rechte der Umgebung abgegolten werden. Die anschließend innerhalb eines Dorfes durchgeführte Spezialseparation bestand zum einen in der Aufteilung des gemeinsamen Landes an die Berechtigten, zum anderen in der anschließenden Flurbereinigung, die zeitgenössisch im Braunschweigischen Verkoppelung genannt wurde.[193] Nach Feststellung der Anrechte aller Interessenten wurde die gemeinsame Dorfmark neu vermessen und dabei zugleich die Güte des Bodens festgestellt. Anschließend wurde das gesamte Land in möglichst große, zusammenhängende Feldstücke neu aufgeteilt. Von der Antragstellung bis zur rechtsverbindlichen Feststellung des neuen Zustands zog sich die Separation viele Jahre hin. Auch, weil gewisse psychologische Hemmnisse zu überwinden waren: Der Fortfall der Gemeindewiesen erforderte eine andere Wirtschaftsweise und viele Bauern hingen an ihren alten Grundstücken. Es überrascht somit nicht, dass die Ablösungen eher vorgenommen wurden als die Separationen und im Wesentlichen bis zum Ende der 1850er Jahre abgeschlossen waren, wogegen sich Separationen und Verkoppelungen bis zum Ende des Jahrhunderts hinzogen.

Der Privatbesitz an Grund und Boden stieg durch die Aufteilung des Gemeinbesitzes bis 1880 um 33 %. Weit wichtiger aber war, dass das ehemalige Gemeindeland wesentlich nutzbringender verwertet wurde. Ungepflegte Weiden wurden zu sorgfältig bestellten Äckern, die ein Vielfaches an Ertrag brachten. Ebenso wichtig war die Zusammenlegung der Ackerstücke, deren Anzahl sich im gleichen Zeitraum um 32 % verminderte. Schließlich beseitigte die klar und rechtsverbindlich fixierte Verkoppelung – ebenso wie die Privatisierung der Gemeinheiten und die Ablösung – unzählige, z. T. uralte Streitpunkte, so dass bei steigender Rechtssicherheit die Anzahl der Prozesse spürbar zurückging.[194]

Flurbereinigungen und Separationen erhöhten die Flächenproduktivität bis zum Doppelten und erleichterten die Bewirtschaftung. Nach erfolgter Separation und vor allem nach der Aufteilung der Gemeinheiten sowie der Aufhebung des Flurzwangs ermöglichten oder erleichterten die großen Schläge auch und gerade den Rübenanbau, der in seiner Bedeutung für das Kerngebiet des Herzogtums kaum unterschätzt werden kann.[195]

Die Agrarreformen brachten nicht nur ökonomische und soziale Vorteile für die Bauern mit sich, die von alten Pflichten und Lasten befreit und damit in die Stellung eines freien Staatsbürgers gebracht wurden.[196] Sie ermöglichten – oder förderten zumindest – vor allem die Industrialisierung in der Stadt wie im gesamten Herzogtum Braunschweig. Erkauft wurden die genannten Vorteile indes mit einer Zerstörung der bis dahin gewachsenen Kulturlandschaft, die zu einer Stätte ausschließlich rationeller Produktion umgestaltet wurde. Ihrem Bedauern über die ökologischen Entwicklungen gaben allerdings nur wenige Zeitgenossen Ausdruck und vor allem bei den Bauern überwog die Dankbarkeit gegenüber der Regierung. Schließlich war auch das Kräfteverhältnis im Landtag, insbesondere der zunehmende Einfluss des Landadels und der bäuerlichen Grundbesitzer eine Folge der „Bauernbefreiung“ ab 1834.


[183] LÜDERSSEN, Befreiung, S. 6 (zu einem Gesetzesentwurf der Landesregierung von 1821).
[184] KAUFHOLD, Wirtschaft, S. 724 f.
[185] STEINACKER, Braunschweig, S. 631.
[186] LÜDERSSEN, Befreiung, S. 7.
[187] GVS Nr. 20.
[188] GVS Nr. 1 de 1835.
[189] Zu den Einzelheiten s. KAUFHOLD, Wirtschaft, S. 726; Zur Entstehungsgeschichte der Ablösungsordnung bzw. zum Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens s. LÜDERSSEN, Befreiung, S. 9 ff.
[190] SCHILDT, Bauernbefreiung, S. 56.
[191] SCHILDT, Bauernbefreiung, S. 54.
[192] SCHILDT, Bauernbefreiung, S. 55.
[193] SCHILDT, Bauernbefreiung, S. 58.
[194] SCHILDT, Bauernbefreiung, S. 62.
[195] SCHILDT, Bauernbefreiung, S. 63; und unten, Erster Teil, 3.2., S. 54 ff.
[196] STEINACKER, Braunschweig, S. 636.