2. Die „Neue Landschaftsordnung“ (NLO) von 1832
Nach dem in der Geschichte des Deutschen Bundes einmaligen Regierungswechsel,[125] sah sich der neue Herzog einer Reihe von dringenden Forderungen nach politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen gegenüber.[126] Daher leitete er nach seinem Regierungsantritt zusammen mit seinen Landständen eine rege gesetzgeberische Tätigkeit ein,[127] die dem Land mit dem Staatsgrundgesetz als Hauptergebnis der braunschweigischen Erhebung zunächst eine moderne Verfassung brachte,[128] die das Herzogtum die Revolution von 1848 und die Jahre der Reaktion ohne große Wirren überstehen ließ.[129]
Sie sicherte ihm – im Gegensatz zum Königreich Hannover – auch die politische Selbständigkeit über das Jahr 1866 hinaus.[130] Damit reihte sich Braunschweig in die Schar der konstitutionellen deutschen Staaten ein.[131] Die Neue Landschaftsordnung wandelte das Herzogtum aber nicht nur in eine konstitutionelle Monarchie um: Sie stellte zugleich einen bedeutenden Schritt hin zu einer modernen Repräsentativverfassung dar.[132]
In Anbetracht des Regelungsgehalts der NLO mag ihre Bezeichnung mit “Landschaftsordnung” den Verhältnissen der Zeit geschuldet gewesen sein, traf im Ergebnis aber nicht mehr zu, denn sie regelte den gesamtem Bereich staatlichen Handelns und damit wesentlich mehr als lediglich die Rechte und Pflichten der Landstände. Sie war damit – anders als ihre Vorgängerin von 1820 – mehr als eine Landschaftsordnung, da ihr inhaltlich vielmehr der Rang eines Grundgesetzes zukam.[133] Das wurde – zumindest von einigen – bereits 1832 so gesehen: Während der Beratungen des endgültigen Entwurfs der NLO in der Ständeversammlung beantragte der Abgeordnete Stadtrat Pockels[134] aus Wolfenbüttel beim Titel „Landschaftsordnung“ die Änderung in „Grundgesetz“.[135] Der Antrag wurde von der ersten Sektion mit großer Mehrheit abgelehnt, wogegen ihm die zweite Sektion mit geringerer Mehrheit zustimmte, womit er abgelehnt war. Gleichwohl bezeichnen der § 1 NLO und die Einführungsverordnung des Herzogs die neue Verfassung als „Grundgesetz“, da sowohl die Regierung als auch die mit der Verhandlung und Überarbeitung der Regierungsvorlage betraute Kommission der Ständeversammlung bald eingesehen hatten, dass die „Landschaftsordnung“ in ein wirkliches Landesgrundgesetz, eine Verfassungsurkunde umgearbeitet werden musste, die als „Codex des Staatsrechts für das Herzogthum“ galt, sollte sie den Anforderungen der Zeit entsprechen.[136] Im Ergebnis entsprach die NLO in Inhalt wie Form dem Begriff eines wirklichen Landesgrundgesetzes und wurde im Text auch stets so bezeichnet,[137] allerdings hatte man „aus Rücksichten“ in der Überschrift den Namen „Neue Landschaftsordnung“ beibehalten,[138] so dass der Titel der Verfassung wohl tatsächlich eher einen Kompromiss darstellte: Wilhelm hatte eine solche Abneigung gegen „neumodige Verfassungen“, dass man es lieber bei dem alten Namen – Landschaftsordnung – beließ.[139] Schließlich gibt der Name der braunschweigischen Verfassung den beschriebenen Wandel von einer bloßen Landschaftsordnung zu einem Staatsgrundgesetz im modernen Sinne wohl auch deshalb nicht wieder, weil der Herzog bemüht war, die NLO nur als revidierte Verfassung von 1820 erscheinen zu lassen.[140]
Mit der einstimmigen Billigung der Neuen Landschaftsordnung und aller mit ihr zusammenhängenden Gesetz durch die Ständeversammlung am 12. Oktober 1832 war die Entwicklung vom alten Ständestaat zum modernen Rechtsstaat mit der Ministerverantwortlichkeit (§ 156 NLO) und vollem Etatrecht der Landesversammlung (u. a. § 173 NLO) vollzogen.[141] Das neue Staatsgrundgesetz war eine der liberalsten Verfassungen jener Zeit, was mit dazu beigetragen haben mag, dass die NLO mit nur geringen Änderungen bis zum Ende des ersten Weltkrieges in Kraft bleiben konnte. Im Ergebnis erstaunt das jedenfalls vor dem Hintergrund, dass der Minister von Schleinitz, dessen Regierungspolitik im Jahr 1831 im Übrigen – bei aller durch die Umstände gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung – als erstaunlich fortschrittlich eingestuft wird,[142] sich anfangs noch entschieden gegen eine „neumodige Verfassung“[143] ausgesprochen und dabei eine wenig fortschrittliche Grundhaltung zu erkennen gegeben hatte.[144]
Nachfolgend interessiert vor allem die Bedeutung der neuen Verfassung für die Entwicklung und den Vollzug des Wasserrechts durch die Verwaltungsbehörden des Herzogtums, die im Rahmen der neuen Landschaftsordnung ebenfalls neu organisiert worden waren.[145]
[125] Die Entwicklung im Herzogtum – der Sturz eines legitimen Herrschers und als Folge davon die Herstellung einer modernen Repräsentativverfassung – war in Deutschland eine große Ausnahme, s. dazu GREFE, Gefährdung, S. 149 f.
[126] KAUFHOLD, Wirtschaft, S. 721.
[127] Alleine am 12. Oktober 1832 wurden nach der NLO (GVS Nr. 18) das Wahlgesetz für das Herzogthum Braunschweig (GVS Nr. 19), die Geschäftsordnung für die Landschaft des Herzogthums Braunschweig (GVS Nr. 20), das Gesetz über den Civil-Staatsdienst (GVS Nr. 21), das Gesetz über die Organisation, den Geschäftskreis und das Verfahren der Ministerial-Commission (GVS Nr. 22), das Gesetz, die Organisation und den Wirkungskreis der Kreis-Directionen […] betreffend (GVS Nr. 23), das Gesetz, die Organisation und den Geschäftskreis der Herzogl. Cammer betr. (GVS Nr. 24), das Gesetz, die Organisation und den Geschäftskreis des Herzogl. Finanz-Collegiums betr. (GVS Nr. 25) sowie das Gesetz, die Organisation und den Geschäftskreis der Steuerdirection betr. (GVS Nr. 26) erlassen. Ausführlich zum Gesetzgebungsverfahren der NLO: HENNE, Verwaltungsrechtsschutz, S. 17 ff.; GREFE, Gefährdung, S. 124, insbes. S. 134 ff.
[128] THIELE, Qualität, S. 35; DIEDERICHS, Landkreise, S. 25.
[129] CALWER, Volk, S. 11, beschreibt die Vorgänge in der Stadt Braunschweig eher als „Ulkstückchen“ denn als Revolution. So brachten etwa einige Einwohner dem Abgeordneten Trieps eine Katzenmusik (eine absichtlich ohrenzerreißende Musik, mit der jemand in Form eines Ständchens „Mißfallen bezeigt oder Hohn angethan“ wird etc., s. Meyers Konversationslexikon, Band 9, S. 624 [Schreibweise der 4. Aufl., Leipzig und Wien 1885-1892, wurde beibehalten, Verf.]) dar – ansonsten ging es in der Stadt eher ruhig zu. Anders als auf dem platten Land, wo die rund 18.000 Häuslinge (Tagelöhner) ihre Unzufriedenheit durch Petitionen an den Landtag zum Ausdruck brachten und vor allem die Bauern aus Vechelde vom Herzog eine bessere Vertretung ihrer Interessen im Landtag forderten, s. dazu ausführlich SCHILDT, Tagelöhner, S. 111 ff. Die geringe Intensität der politischen Auseinandersetzungen wird nicht zuletzt dadurch erklärt, dass die Neue Landschaftsordnung dem durch den September 1830 einflussreicher und damit selbstbewusster gewordenen Bürgertum mit der modernen parlamentarischen Vertretung ein Forum geliefert hatte, auf dem Forderungen zumindest artikuliert und diskutiert, in manchen Fällen aber auch durchgesetzt werden konnten, s. GREFE, Gefährdung, S. 149.
[130] MODERHACK, Braunschweigische Landesgeschichte, S. 93.
[131] HUBER, Verfassungsgeschichte, S. 62.
[132] POLLMANN, Landschaftsordnung, S. 1 ff., insbes. S. 13: Rechte der Abgeordneten gem. §§. 133-135 NLO.
[133] Dazu HENNE, Verwaltungsrechtsschutz, S. 20 Fn. 24.
[134] POCKELS, Wilhelm Johann Baptist, * 1795, U 2. März 1876 Wolfenbüttel, Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen, 13. Dezember 1830: Stadtrat in Wolfenbüttel, 4. Dezember 1832: Kreisdirektor in Holzminden, langjähriger Präsident des Landtages, Vater von Wilhelm POCKELS (Oberbürgermeister der Stadt Braunschweig von 1879 bis 1904), s. MÜLLER a. a. O. m. w. N.
[135] Dazu und zum folgenden: MÜLLER, Stadtdirektor, S. 142.
[136] STEINACKER, Braunschweig, S. 624.
[137] Etwa in der Präambel als „Grundgesetz des Landes“, als „Grundgesetz“ in § 1 sowie als „Landesgrundgesetz“ in den §§ 23, 98, 113, 122, 141, 231 und 232 NLO.
[138] STEINACKER, Braunschweig, S. 624.
[139] DIEDERICHS, Landkreise, S. 25.
[140] HENNE, Verwaltungsrechtsschutz, S. 20 Fn. 24.
[141] MÜLLER, Stadtdirektor, S. 143.
[142] So von GREFE, Gefährdung, S. 133.
[143] RHAMM, Verfassungsgesetze, S. 47; MÜLLER, Stadtdirektor, S. 138 f.
[144] RHAMM, a. a. O., gibt einen entsprechenden Kommentar des Ministers zu den Vorstellungen der ständischen Kommission wieder: „Ueberdies lehrt auch schon jetzt die Erfahrung, daß die schönen allgemeinen Phrasen, die zu einer solchen Verfassung gehören und die eigentlich keinen praktischen Werth haben, doch gerade ihrer Allgemeinheit wegen eines großen Mißbrauchs fähig sind, wie denn z. B. in Hessen aus der Freiheit der Person das Recht der Civilbeamten hergeleitet wird, dem Landesfürsten mit großen Schnurbärten wider dessen Willen vor die Augen zu kommen. Es wird daher nothwendig sein, auf dem eingeschlagenen Wege zu bleiben.“
[145] Zur Verwaltungsreform von 1832/’33 MUNDHENKE, Entwicklung, S. 129 ff.