Abschnitt 3

1.3.   Zwischenbefunde

Offen bleibt, mit welchem Terminus die Ereignisse am 6. und 7. September in Braunschweig umschrieben werden können: „Revolution“ scheint wenig passend, da durch den Sturz des Herzogs keine Veränderung der politischen und sozialen Situation angestrebt wurde,[109] sondern es sich vielmehr um ein letztes Aufflammen des alten Widerstandsrechts ständischer Schichten gegen die rechtswidrig handelnde Obrigkeit handelte.[110] Es ging weniger darum, neues Recht zu gewinnen als vielmehr darum, altes Recht zu verteidigen. Ziel des Protestes war nicht der Umsturz einer Gesellschaftsordnung: Alleiniges Ziel war die Vertreibung einer Person,[111] da es sich um eine ausschließlich gegen „die Person des Herzogs Karl“[112] gerichtete Erhebung gehandelt hatte. Zumindest bemühte sich vor allem Wilhelm Bode unmittelbar nach der Vertreibung Karls II., es so darzustellen. Wohl nicht zuletzt, um Preußen und Hannover von einer militärischen Intervention abzuhalten, deren Ziel die Wiedereinsetzung des geflüchteten Landesherrn gewesen wäre. Bei aller Antipathie gegen Karl II. hätten beide benachbarten Regierungen eine derart eklatante Provokation gegen die monarchische Legitimität nicht hinnehmen können. Daher war es außerordentlich wichtig, den Umsturz nicht als Ergebnis von Unzufriedenheit der Masse der Bevölkerung oder auch nur eines Großteils der zu selbständigen Entscheidungen Befähigten mit dem politischen System darzustellen. Ein auf der Grundlage solcher Erbitterung – sei sie auch noch so berechtigt gewesen – durchgeführter Aufstand wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.[113]

Revolution oder nicht: Die Ereignisse im September 1830 stellten sich im Ergebnis jedenfalls als der erfolgreiche Versuch der adelig-bürgerlichen Führungsschicht in Braunschweig dar, einen bereits erreichten rechtlichen und politischen Zustand wiederzuerlangen.[114]

Für die weitere Entwicklung mitentscheidend war das um- und weitsichtige Handeln des Magistratsdirektors während und unmittelbar nach der Flucht Karls II. Bode gilt einerseits als einer der „geistigen Väter“ der Vertreibung des Herzogs, andererseits war er zugleich verantwortlich für das schnelle Abflauen der Unruhen.[115] Ihm vor allem ist es zu verdanken, dass eine neue liberale Ordnung eine politisch und vor allem rechtlich haltbare Grundlage erhielt,[116] indem er nicht nur Herzog Wilhelm zur Übernahme der Regierung ermutigte, sondern vor allem Juristen wie dem späteren Staatsminister von Schleinitz den Weg an die Spitze des Staatsministeriums ebnete. Nach Aushandlung der Austarierung der Machtverhältnisse im Herzogtum bildete das von W. von Schleinitz geprägte Staatsministerium eines der vier Machtzentren, auf die sich das „Stadtpatriziat“ verteilt hatte.[117] Aufgrund der fehlenden Regierungsinitiativen des Herzogs konnte das Ministerium die Landespolitik weitgehend selbständig mit den übrigen drei Machtzentren aushandeln: Mit der von Karl Steinacker geführten liberalen Opposition in der Ständesammlung[118], in der neben und nach ihm vor allem August Hollandt[119] als führender Vertreter des vormärzlichen (Links-)­Libe­ralismus in Braunschweig hervortrat. Ferner mit Wilhelm Bode, dem Magistrats- bzw. Stadtdirektor von Braunschweig und nach ihm mit Heinrich Caspari[120], dem langjährigen Oberbürgermeister der Stadt, der seit 1848 auch der Ständeversammlung angehörte und später langjähriger Präsident der Landesversammlung war. Schließlich mit dem konservativen Grundadel, der im Gegensatz zu den übrigen Machtzentren nicht durch Juristen repräsentiert und nicht zuletzt deshalb relativ schwach war.[121]

Die weitere Entwicklung im Herzogtum und letztlich auch der Erlass der Wassergesetze, insbesondere der Verlauf des ersten Gesetzgebungsverfahrens von 1849-1851 sollte von der geschilderten Machtverteilung in Braunschweig ebenso geprägt werden, wie von einigen der genannten Persönlichkeiten, denn Caspari etwa gehörte nicht nur der Landesversammlung an, sondern wurde von den Abgeordneten zudem in die Kommission zur Prüfung und Vorberatung der Regierungsvorlage gewählt. Auch Hollandt sollte während des Gesetzgebungsverfahrens in der Landesversammlung erneut auf seinen Widersacher (s. dazu Fn. 119) Trieps[122] treffen.

Besondere Verdienste erwarb sich von Schleinitz bei dem Ablösungsgesetz von 1834. Zuvor aber war er auf Seiten der Regierung an der Ausarbeitung der neuen Verfassung[123] des Herzogtums beteiligt.[124]


[109] PUHLE, Pokal, Anm. 94.
[110] PUHLE, Pokal, Anm. 95.
[111] PUHLE, Pokal, S. 19.
[112] Zitat bei BÖSE, Karl II., S. 131.
[113] GREFE, Gefährdung, S. 78.
[114] PUHLE, Pokal, S. 12.
[115] HENNE: Juristen, in: RÜCKERT/VORT­MANN, Juristen, S. XLIX.
[116] SCHILDT, Bode, in: BBL, S. 73.
[117] Vgl. HENNE: Bode, in: RÜCKERT / VORTMANN, Juristen, S. 124.
[118] Die Terminologie ist nicht eindeutig. Die Verfassung selbst kennt als umfassende Begriffe: „Stände“, „Landstände“ und „Landschaft“; als Bezeichnung für das Landesparlament: „Ständeversammlung“ und für die Tagungsperiode (abweichend vom heutigen Sprachgebrauch): „Landtag“. 1848 ist der Begriff „Ständeversammlung“ durch „Landesversammlung“ ersetzt worden; s. POLLMANN, Landschaftsordnung, S. 29 f., Anm. 11; HENNE, Verwaltungsrechtsschutz, S. 18 Fn. 6. In den Sitzungsprotokollen wird die Versammlung der Abgeordneten daneben mit „Landes-Abgeordneten-Versammlung“ bezeichnet, nachdem ab 1849 die bis dahin sog. Stände-Versammlung die Bezeichnung „Abgeordneten-Versammlung“ angenommen hatte, s. SCHILDT, Tagelöhner, S. 115, Fn. 321.
[119] Hollandt, August Christoph Theodor, * 4. Oktober [BEST/WEEGE, s. u.] oder 2. November [HENNE, s. u.] 1800 Braunschweig, U 18. April 1882 ebenda, trat vor allem als führender Vertreter der vormärzlichen (Links-)­Liberalismus in Braunschweig hervor, 1848/’49 einer der braunschweigischen Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung, ab 1835 Abgeordneter der Ständeversammlung, trug 1848 als Vizepräsident der Versammlung mit zum vergleichsweise ruhigen Verlauf der Revolution von 1848/’49 in Braunschweig bei, scheiterte mit seinem Versuch, anstelle des von rechtsliberalen Kreisen nominierten E. Trieps die Nachfolge des einflussreichen Braunschweiger Stadtdirektors W. Bode anzutreten, 1850/’51 Präsident der Abgeordnetenversammlung; s. HENNE: Hollandt, in: RÜCKERT/VORT­MANN, Juristen, S. 155 f. m. w. N.; BEST/WEEGE, Handbuch, S. 185 m. w. N.; MÜLLER, Stadtdirektor, S. 204 f.
[120] Caspari, Carl Wilhelm Heinrich, Dr., * 29. November 1805 Braunschweig, U 3. Mai 1880 ebenda, Jurist, Jurastudium in Göttingen, seit 1834 Justizamtmann in Blankenburg/Harz, seit 1841 in Wolfenbüttel, 1847 Polizeidirektor in der Stadt Braunschweig, 1848 Wahl zum Nachfolger Wilhelm Bodes als Vorsitzender des Stadtmagistrats, Verleihung des Titels Oberbürgermeister durch Herzog Wilhelm, zugleich seit 1848 Mitglied und langjähriger Präsident der Landesversammlung; s. PINGEL, Caspari, Carl Wilhelm Heinrich, in: BBL, S. 120.
[121] HENNE: Juristen, in: RÜCKERT/VORT­MANN, Juristen, S. XLIX.
[122] Trieps, Jakob Peter Eduard, Dr., * 31. März 1811 Braunschweig, U 5. Juni 1884 ebenda, Jurist, 1850 Wahl in die Ständeversammlung, während des ersten Gesetzgebungsverfahrens von 1849-1851 Referent der Commission für Prüfung des Gesetz-Entwurfs über Ent- und Bewässerungsanlagen, 1857 erfolgte seine Deputation als braunschweigischer Vertreter in die Kommission zur Erarbeitung eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuches in Nürnberg, später auch des Seerechts in Hamburg, wo man schnell seine besonderen Fähigkeiten erkannte und ihn 1860 bewog, in den hamburgischen Justizdienst zu wechseln. Bereits 1863 Obergerichtspräsident in Wolfenbüttel, 1874 Berufung als Wirklicher Geheimer Rat (Ressorts Justiz und Kultus) in das Staatsministerium, 1881 Abschied nach Meinungsverschiedenheiten im Kabinett; s. MEYER-HOLZ: Trieps, in: RÜCKERT/VORT­MANN, Juristen, S. 181 ff. m. w. N.; SCHMID, Trieps, Jakob Peter Eduard, in: BBL, S. 614 sowie 6. ordentl. LT von 1848-1851, Protokoll Nr. 146, S. 783 und Protokoll Nr. 150, S. 806.
[123] Neue Landschaftsordnung für das Herzogtum Braunschweig vom 12. Oktober 1832, GVS Nr. 18, (nachfolgend NLO).
[124] ESCHEBACH, in: BBL, S. 523.